Eine Angstfresserliste

Predigt zum 1. Advent 2012



Heute ist im Evangelium von etwas die Rede, was jeder Mensch kennt: von der Angst. Der Evangelist Lukas nennt einige Dinge, die den Menschen in seiner Zeit große Angst gemacht haben: dass auffällige Erscheinungen am Himmel zu sehen sind, dass das Meer tost und brüllt, dass Menschen vor Angst fast vergehen, weil sie nicht wissen, was die Zukunft bringt.
Schon Kinder wissen, was Angst ist. Viele Dinge machen ihnen Angst. Oft sind sie ganz unscheinbar, und trotzdem fängt das Herz zu klopfen an. In einem kleinen Gedicht hat der Kinderbuchautor Max Bolliger eine Liste zusammengestellt, was Kindern alles Angst macht:

Wenn es auf dem Boden knistert und knarrt,
wenn etwas leise hinter der Holzbeige scharrt,
wenn der Himmel schwarz und dunkel ist,
wenn es donnert und blitzt,
wenn ein Stier uns entgegenrennt,
wenn es hagelt und brennt,
wenn der Sturm an den Läden rüttelt
und die Kronen der Bäume schüttelt.
Wenn wir durch einen Wald spazieren
und plötzlich die Richtung verlieren,
wenn hinter den Büschen Gespenster lauern
und hinter den Steinen Gestalten kauern,
wenn sich Riesen im Traum verstecken
und uns mitten in der Nacht wecken,
wenn uns die Mutter in den Keller schickt,
wenn vor uns ein Mäuslein erschrickt.


Genau wie Kinder haben wir Erwachsene Angst, auch wenn die Ängste andere Formen und andere Namen haben. Angst ist ein Begleiter des Lebens und Angst macht etwas mit uns. Dagegen ist nichts zu machen. Das einzige Mittel, mit der Angst fertig zu werden, ist: ihr etwas entgegenzusetzen. Das Wirksamste ist, sich an Erlebnisse oder Personen zu erinnern, die in uns Vertrauen wecken. Auch dafür hat Max Bolliger eine Liste zusammengestellt:

Vater und Mutter und vertraute Gesichter,
im Dorf und in der Stadt die Lichter.
Die Sonne, die uns am Morgen weckt,
das Kätzchen, das sich in unsern Arm versteckt.
Im Bett Teddybären und Puppen,
Sterne, die durchs Fenster gucken.
Bruder, Schwester, Neffe und Nichte
und in der Schule die schönen Geschichten.
Alles, was jeden Tag mit uns lebt,
und am Abend das Gute-Nacht-Gebet.


Es ist gut, für den Notfall eine solche Liste von wohltuenden Erfahrungen zur Hand zu haben: eine richtige Angstfresserliste. Es wäre einen Versuch wert: Wenn ich wieder einmal große Angst habe, dann nehme ich meine persönliche Angstfresserliste zur Hand und stelle mir ganz lebhaft vor, was da alles steht ...
Da stehen Namen von Menschen, zu denen ich Vertrauen habe. Da gibt es Telefonnummern, die ich auswendig weiß. Da steht die Erinnerung an ein Ereignis, wo ich große Angst hatte und sich doch alles zum Guten gewendet hat. Da steht ein Lied, das auf mich Ruhe ausstrahlt. Da steht ein gutes Wort, das mir schon einmal geholfen hat. Da steht ein Gebet, das mir Zuversicht geschenkt hat.

Genau das gleiche rät der Evangelist Lukas den Christen seiner Zeit: Wenn ihr vor Angst vergeht, dann haltet den schlimmen Dingen, die euch solche Angst machen, ein Bild entgegen, das euch wieder Mut macht! Stellt euch vor: Genau dort, wo ihr erschreckende Dinge am Himmel seht, dort wird auch einmal ein Gesicht erscheinen, das euch die Angst nimmt: der Menschensohn, an den ihr glaubt, zu dem ihr betet, auf den ihr wartet.



Pfarrer Stefan Mai

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