Der mächtige Ohnmächtige

Predigt zum Christkönigsfest 2012 (Joh 18,33b-37)

Das Spiel „König, wie viele Schritte darf ich machen?“, wird von Kindern angespielt:

Einer ist König, die anderen sind die Untertanen.
Ein Untertan fragt den König, wie viele Schritte er machen darf.
Der König gibt z. B. zur Antwort: 2 Schritte nach vorne.
Der nächste darf 3 Schritte nach vorne, aber 2 wieder zurück.
Der dritte darf gar keinen Schritt gehen.
Der vierte muss 5 vor, einen zur Seite und 5 Schritte zurück...


In diesem Kinderspiel begegnet uns ein König, der über jeden Schritt seiner Untertanen entscheidet, der andere für sich springen und sie nach seiner Pfeife tanzen lässt. So, wie er gerade will. Der König hat unbegrenzte Macht über seine Untertanen und macht mit ihnen, was er will.

Im heutigen Evangelium wird uns ein anderer König vor Augen gestellt. Wie in einem spannenden Bühnenstück stehen sich zwei Hauptpersonen gegenüber.
Auf der einen Seite Pilatus - der Mann, der die weltliche Macht verkörpert. Er ist der verlängerte Arm des alles beherrschenden Kaisers von Rom. Er hat Macht über Leben und Tod und kann als einziger in Israel ein Todesurteil fällen.
Und auf der anderen Seite Jesus - gefesselt, völlig machtlos und hilflos, ausgelacht und verspottet, von den eigenen Leuten verraten und ausgeliefert und jetzt zur Schau gestellt.

So sieht die Szene auf dem ersten Blick aus. Die Macht des Pilatus steht gegen die Ohnmacht Jesu. Es scheint klar zu sein, wer am Ende triumphiert und oben auf ist. Aber der erste Blick täuscht. Denn im Lauf des Dramas zwischen Macht und Ohnmacht dreht sich der Spieß um:
Die scheinbare Macht des Pilatus erweist sich als Macht auf wackeligen Beinen. Dem anscheinend so starken Mann sind in Wirklichkeit die Hände gebunden. In Wirklichkeit ist er selbst ein Spielball der Launen des Volkes und des Kaisers. Dauernd hin und hergerissen im Taktieren. Mit dem Volk darf er es sich nicht verderben. Denn wie schnell könnte seine Karriere zu Ende sein, wenn er etwas tut, was die Gunst des Kaisers aufs Spiel setzt. Der scheinbar Mächtige ist innerlich zerrissen und lebt in Angst.

Und die scheinbare Ohnmacht Jesu auf der anderen Seite erweist sich als die eigentliche Stärke. Der, dem die Hände gebunden sind, ist in Wirklichkeit der freie Mensch. Souverän steht er da. Sich mit sich selbst im Einklang zu wissen, das macht ihn unerschütterlich: „Ich bin dazu in die Welt gekommen, dass ich für die Wahrheit Zeugnis ablege.“ Vor dieser inneren Stärke, beginnt der Mächtige zu zittern.

Dieses Drama, dieser Konflikt Jesus - Pilatus spielt sich auch in unserem Leben ab. Und ich meine zu ahnen:
Wer unabhängig von Lob und Tadel zu seiner inneren Überzeugung steht, wer sich selbst treu bleibt, auch wenn er scheinbar dadurch ins Hintertreffen gerät oder als Verlierer davongeht, der darf manchmal etwas davon erfahren, welche Kraft in der scheinbaren Ohnmacht verborgen ist.



Pfarrer Stefan Mai

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