Wir kommen uns immer näher!

Predigt zum Friedhofsgang 2012

Zu seinem 76. Geburtstag schrieb der schon länger verstorbene Alttestamentler Fridolin Stier folgende Zeilen auf seinen Notizblock:

„Jedes Mal denke ich beim Aufwachen an meinem Geburtstag zuerst an meine Mutter, die mir das Leben schenkte. Aber jedes Mal denke ich auch an den Gevatter Tod, der sich bei der Geburt mit in die Windeln einnistet und alle Tage größer hineinwächst in unser Leben.
Der Geburtstag ist für den Tod immer ein besonderer Anlass, sich unter die Gratulanten zu mischen. An jedem Geburtstag flüstert er mir ins Ohr: Siehst du, mein Freund, wir kommen uns immer näher!“


„Siehst du mein Freund, wir kommen uns immer näher!“
Einem Fridolin Stier ist bewusst, dass wir von der Stunde unserer Geburt an mit dem Tod unterwegs sind. Dieses Wissen, dass wir den Keim des Todes vom Anfang des Lebens an in uns tragen, das erschreckt uns immer wieder.

Drastisch hat dies der Barockbildhauer Josef Stammel in der berühmten Bibliothek des Benediktinerstifts Admont in der Steiermark in Szene gesetzt. Dort stehen unter der Kuppel überlebensgroße Figuren - Darstellungen der „Vier letzten Dinge“: Tod, jüngstes Gericht, Himmel und Hölle. Den Tod hat der Bildhauer besonders eindrucksvoll gestaltet: Ein Pilger - gekennzeichnet durch Stab, Muschel, Kreuz und Hut - wird von einem Gerippe begleitet, das ihm bei jedem Schritt über die Schulter schaut. In der rechten Hand hält der Knochenmann ein Stundenglas, in der linken einen Pfeil. Drei Symbole der Vergänglichkeit legt Stammel dem Pilger vor die Füße: eine abgebrochene Kerze, eine leere Muschel und eine Seifenblase.

Das geht unter die Haut: Der Tod als ständiger Wegbegleiter, der auf unserer Lebensreise im Gleichschritt mitgeht. Der uns das Stundenglas vor Augen hält und damit zeigt, wie unerbittlich unsere Stunden und Tage, unsere Lebenszeit zerrinnen. Und der erhobene Pfeil macht uns klar, dass er uns einmal treffen wird, auch wenn keiner von uns weiß wann, wie, wo.

Eine solche Darstellung des Todes erschüttert mich viel mehr als der gespielte Tod auf den Bildschirmen. Denn sie bringt mich zum Nachdenken. Sie sagt mir nicht nur: Täusche dich nicht, auch dich kann es jede Minute treffen, auch wenn du oft meinst, da ist noch weit hin. Sie sagt mir auch: Nimm die kleinen Vorboten, die uns der Tod in den Weg stellt ernst.
Die abgebrochene Kerze, die Stammel dem Pilger vor die Füße legt, will an dunkle Stunden im Leben erinnern, an die ausgelöschten Lebenslichter vieler Menschen, die mit mir durchs Leben gegangen sind und will mir ins Gedächtnis rufen: Auch dein Lebenslicht wird einmal erlöschen.
Die leere Muschel macht mich darauf aufmerksam, ein Großteil deiner Lebenszeit ist schon ausgeschöpft und wird wirklich einmal aufgebraucht sein.
Und die Seifenblase, die platzt, stellt mir so manche Hoffnungen und Träume vor Augen, die sich nicht erfüllt haben und sagt mir: Dein Leben bleibt immer bruchstückhaft, bleibt immer ein Fragment und wird nie vollendet sein, wenn du es aus den Händen geben musst.

Die aufrüttelnden Geburtstagseinflüsterungen von Gevatter Tod im Notizbuch eines Fridolin Stier „Siehst du mein Freund, wir kommen uns immer näher!“ schmecken uns nicht so recht und der Knochenmann des Josef Stammel kommt vielen von uns makaber vor.
Aber vielleicht bewirkt heute oder morgen einmal ein bewusster Gang durch die Grabreihen, das Lesen der Namen und Lebensdaten auf den Grabsteinen, das Aufsteigen der Gesichter von so vielen Verstorbenen vor meinem Auge etwas ähnliches, wie das, wozu ein Fridolin Stier und ein Josef Stammel anregen wollten:
Der Blickkontakt mit dem Tod kann uns manchmal einen Stups geben, die Gewichte in unserem Leben bewusst zu setzen, die Zeit, die uns geschenkt ist, sinnvoll zu gestalten und uns über das Leben zu freuen.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de