Manchmal muss man schreien

Predigt zum 30. Sonntag im Jahreskreis

Geduldet wird er - an der Straße, die von Jericho nach Jerusalem hinaufführt. Es ist die letzte Etappe der Wallfahrtsstrecke hinauf zum Tempel. An dieser Straße darf er sitzen, der blinde Bartimäus und still und unauffällig betteln, in der Hoffnung, dass der Mitleids-Obulus macher frommer Pilger für ihn abfällt.
Geduldet wird er, aber schweigen soll er, still dasitzen, sein Leid ertragen, den Betrieb nicht stören, möglichst unauffällig eine Randfigur sein, dankbar mit dem Kopf nicken und froh sein, dass man ihn durchfüttert.

Aber als Bartimäus hört, dass Jesus in der Wallfahrtsmenge vorbeizieht, fällt er aus der Rolle und rastet völlig aus. Er wird laut und kreischt wie ein Besessener. Alles Zischen und um Ruhe bitten nützt nichts. Bartimäus bleibt ausfällig und schreit sich mit dem Mut der Verzweiflung seine Not aus der Seele.

Und Jesus hört ihn. Er lässt ihn rufen. Und auf einmal ermutigen Menschen, die Bartimäus vorher noch das Maul stopfen wollten, ihn aufzustehen und ermuntern ihn, auf Jesus zuzugehen. Bartimäus springt auf und wirft seinen Mantel weg. Welch ein Zeichen! Den Mantel, das einzige, was einem armen Schlucker nach dem jüdischen Gesetz nicht weggenommen werden darf, schmeißt er weg. Bartimäus geht volles Risiko ein, setzt alle Hoffnung auf diese Begegnung und wirft mit einem Schlag seinen über Jahre entwickelten Schutzpanzer ab.

Aufrecht steht er jetzt vor Jesus in Augenhöhe. Es wird nicht mitleidig von oben herab auf ihn geschaut. Seitens Jesu kein Wort des Mitleids. Nein! Jesus stellt ihm eine Frage: Was soll ich dir tun? Als ob das nicht klar wäre. Aber Jesus will Bartimäus eines klar machen: Du, der du zu deiner Blindheit von deiner Umgebung auch noch stumm gemacht wurdest, du musst jetzt sagen, was du willst. Jetzt zählt deine Meinung. Nur das kann dir helfen, ein neues Leben zu beginnen.

Das Evangelium vom blinden Bartimäus macht mich in mehrerlei Hinsicht nachdenklich:

1. Es stellt einmal an mich selbst die Frage: Was will ich selbst wirklich, was wünsche ich mir für mein Leben. Habe ich überhaupt den Mut, meine Wünsche vor anderen auszusprechen?

2. Wie oft höre ich das gut gemeinte Wort - vor allem von alten Menschen: Still halten - Maul halten! Oder: Wie Gott will, ich halte still. Das Evangelium fragt mich: Will er es wirklich, dass ich alles in mich hineinfresse oder wäre es nicht besser, laut - wie Bartimäus - meine Einsamkeit, meine Not, meine Sehnsucht, das, was mir gut tun würde, hinauszuschreien, anstatt stumm innerlich kaputt zu gehen?

3. Wir feiern heute den Weltmissionssonntag. Kann Not in unserem Land und auf der ganzen Welt nicht erst wirklich in Angriff genommen und gelindert werden, wenn Menschen am Rand oder notleidende Völker ihre Stimme erheben, laut schreien, auf sich aufmerksam machen, ja lästig sind, damit man ihnen mit Respekt und Achtung begegnet und sie nicht nur als stimmenlose Almosenempfänger ruhig gehalten werden?


Pfarrer Stefan Mai

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