Die Macht der Lieder

Predigt zum 20. Sonntag im Jahreskreis (Eph 5,15-20)


Einleitung

Im ICE von Stuttgart nach Hamburg sind alle Passagiere in ihre Laptops und Zeitungen vertieft oder blicken stumm aus dem Fenster. Zu hören ist nur ein ungefähr 5 Jahre altes Mädchen. Es malt mit seinen Buntstiften und singt dazu: „Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserm Haus herum, fidebum.” Anfangs singt sie eher leise, mit der Zeit wird das Singen immer lauter und kraftvoller. Das Mädchen malt und singt vom Bi-Ba-Butzemann, bis die anderen Passagiere sich genervt zu ihr und ihrer Mutter umdrehen. Schließlich sagt die Mutter: “Mensch, sei doch mal leiser!” Das Kind fragt natürlich zurück: “Warum denn?” Darauf die Mutter: “Was würdest du denn machen, wenn die anderen Leute im Zug plötzlich alle anfangen würden, hier laut rumzusingen?” Worauf das Mädchen begeistert antwortet: “Na dann würde ich natürlich mitsingen!”
Die heutige Lesung aus dem Epheserbrief lädt zum Singen ein. Eine Gelegenheit, einmal über die Bedeutung des Singens nachzudenken

Predigt

„Lasst in Eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen... Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn. Sagt Gott, dem Vater jederzeit Dank!“ Diesen Ratschlag zum Singen gibt heute der Schreiber des Epheserbriefes.
Auf die Frage: „Woran erkennt man die Christen?“ hat der römische Schriftsteller Plinius im 2. Jahrhundert eine ganz einfache, aber doch interessante Antwort gegeben: Das Kennzeichen der Christen sei es, so meint er, „dass sie ihrem Gott Christus Lieder singen.“

Aber die Deutschen singen nicht mehr! So schrieb schon vor ein paar Jahren der „Spiegel“ unter dem Titel: „Das Jaulen der Trauerklöße. Die Deutschen verlernen das Singen.“ Im Lamentieren sind wir Weltmeister, aber von Herzen froh und gemeinsam singen ist uncool geworden. „Mama, sing nicht so laut, da muss ich mich schämen“, zupft die kleine Tochter ihre Mutter am Rock, als diese in der Kirche kräftig mitsingt. So wunderbar viele Menschen in Chören singen und auch musizieren - Allgemeingut ist Singen nicht mehr.

In seinem Buch „Gottesvergiftung“ übt der Psychoanalytiker Tilman Moser sogar beißende Kritik an den Liedern der Kirche. An jenen Liedern, die ihm seine gläubigen Eltern ins Herz gesungen haben - und wie er sagt - sein Herz vergiftet haben. Tilman Moser wendet sich direkt an Gott und meint: „Die Traurigkeit beim Lesen in deinem Gesangbuch ist eine Mischung aus Ohnmacht, Resignation und Wertlosigkeit.“

Ich persönlich habe nie erlebt, dass die Lieder, die mir Eltern, Lehrer oder Menschen in der Kirche ins Herz gesungen haben, mein Herz vergiftet hätten oder mir das Gefühl gaben, ohnmächtig und wertlos zu sein. Im Gegenteil, wie oft habe ich den Segen und die Macht der Lieder im Leben erfahren.

Nie werde ich die Stunden vergessen, wie ich in der Kirche als Kind neben meinem Vater auf der Empore stand oder neben meiner Mutter auf der Orgelbank saß und wie sie mit ihren schönen Stimmen die Melodien und Worte der Lieder in mich eintröpfeln ließen, und ich schon mitsingen konnte, ohne dass ich lesen konnte.

Wie dankbar bin ich meinem Volksschullehrer Schmitt, der uns jeden Tag zu Beginn des Unterrichts vorne aufstellen ließ. Jeden Tag sangen wir eine halbe Stunde mit ihm. Und noch heute habe ich es lebhaft vor Augen, wie wir mit ihm am Abend auf der Bühne standen und als Kinder zweistimmig „Der Mond ist aufgegangen“ gesungen haben. Welches Selbstwertgefühl gab das.

Wie nah ist mir noch der Moment, als wir bei der Priesterweihe auf dem Boden lagen und das Lied von Huub Oosterhuis angestimmt wurde: „Ich steh vor dir mit leeren Händen, Herr, fremd wie dein Name sind mir deine Wege“. Das war kein Gefühl von Ohnmacht oder Erniedrigung, nein das war einfach nur Ergriffenheit.
Ich werde den Brief nie vergessen, den mir ein Mann nach dem Primizgottesdienst schrieb. Darin waren die Worte zu lesen: Ich war am meisten bei Ihrem Gottesdienst beeindruckt, als Ihre Heimatgemeinde das Lied „Großer Gott, wir loben dich“ sang. Welch ein Segen, wenn Menschen miteinander so ergriffen und dankbar singen können.“

Wie oft habe ich in traurigen Stunden bei Beerdigungen, wo alles sprachlos war und viele offene Fragen im Kirchenraum standen, erlebt, dass Menschen im tiefsten Leid mitgetragen wurden vom tröstenden Gesang der anderen.

Ich höre noch heute die Stimmen der alten gebrechlichen Menschen im Pflegeheim St. Elisabeth in Aschaffenburg und sehe ihre sehnsuchtsvollen Gesichter vor mir, wenn sie nach jedem Requiem das Lied anstimmten „Wo findet die Seele die Heimat die Ruh?“ und sich mit den Worten „die Heimat der Seele ist droben im Licht“ ihre ganze Sehnsucht förmlich aus dem Leib schrien.

Ich kann nie die Augenblicke vergessen, wo mir ein Mann kurz vor seinem Sterben sagte: Jetzt singen sie mir bitte noch einmal das Salve Regina vor und im Glauben starb: Im Moment des Todes wird mir Jesus gezeigt, was am Ende dieses alten Gesangs in Worte gebracht wird.
Welcher Segen sind doch die Lieder, die tief im Unterbewusstsein gespeichert sind, wenn es auf den Tod zugeht. Sie sind oft die einzige Sprache, die Menschen noch verstehen. Wie oft habe ich dies an Sterbebetten erlebt.

Bei einer Fahrt auf den Spuren des Maximilian Kolbe wurde mir im Hungerbunker von Auschwitz bewusst: Welche Widerstandskraft muss doch von Liedern ausgehen, die Menschen gemeinsam in aussichtslosen Situationen singen, sodass sogar SS-Schergen sich die Ohren zuhielten, als die Gesänge der Opfer an ihr Ohr drangen.

Liebe Leser,
nein, ich habe es nie wie ein Tilman Moser erfahren, dass die Lieder im Gesangbuch mein Herz vergiftet haben. Ich habe vielmehr die Macht dieser Lieder, ihre Kraft und ihren Trost erfahren. Deshalb kann ich die Worte des Epheserbriefes nur weitergeben:
„Lasst in Eurer Mitte Psalmen, Hymnen und Lieder erklingen...Singt und jubelt aus vollem Herzen zum Lob des Herrn!“


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de