Wie aus Fremde Heimat wird

Kiliani-Predigt 2012 in St. Kilian, Schweinfurt (Lesung: Dtn 6,5-13)

Predigt

„Fühl dich einfach wie zu Hause“ - unter diesem Titel beschreibt Anna Claus kürzlich im Jugendmagazin „Jetzt“ der SZ ihre Gedanken zum Umzug von München nach Hamburg. Sie erzählt von ihren Umzugserfahrungen und von ihrer Suche nach einer neuen Heimat. Sie schaut aus ihrem Büro hoch oben in einem Tower hinab nach Hamburg und schreibt:

„Für den Job zieht man auch um. Man gibt viel für ihn auf. Die Heimat, die Freunde. Geliebte Rituale. Mein Gott, kann das gut gehen?
Ich versuche anzukommen.
Seit einem Jahr wünsche ich mir, dass sich das Hamburg unter meinen Füßen in Heimat verwandelt. Seit einem Jahr ist der einzige Ort, an dem ich ankomme: mein Büro. Jeden Morgen, kurz vor halb acht.
Kein Aufbruch ohne Heimweh. Kein Weiterkommen ohne Neuanfänge. Das war die Überzeugung, mit der ich das Jobangebot aus Hamburg nach langem Zögern dennoch annahm. Nur einmal im Leben bekommst du diese Chance, dachte ich...

Jetzt habe ich den perfekten Arbeitsplatz. Ich habe sogar ein Bürofenster, das eigentlich kein Bürofenster ist, sondern eine Wand aus Glas. Aber alles was ich dadurch sehe, ist eine Stadt, die mir keine Heimat gibt …
Als Studentin hatte ich ein Poster an der Wand meines Zimmers hängen. Es war weiß, darauf stand in kleiner grauer Schrift: „Wenn etwas weg ist, ist es nicht mehr da.“ Der Satz machte mir Mut, weil er für mich bedeutete. Wer nach vorne schaut, kommt weiter, vielleicht sogar nach oben. Bis an die Spitze eines Büroturms im Herzen von Hamburg.“

Aber jetzt sitzt sie da und hat Heimweh. Sie schreibt: „Ich vermisse meine Schwester und die Erdbeeren in der Kaufingerstraße. Ich vermisse das Bier im 'Stadtcafe', die orangefarbenen Fliesen am Marienplatz.“ Sie respektiert wie sich Arbeitskollegen bemühen: „Warte ab, sagten die Hamburger, der Frühling wird dir gefallen, geh in den Stadtpark. Ich sah den Stadtpark und ging schnell wieder. Der Hamburger Stadtpark kann nur Leuten gefallen, die den englischen Garten nicht kennen.“
Sie schreibt davon, wie sie sich in die Arbeit stürzt und wie schwer ihr es fällt, neue Freundschaften zu schließen. „Ausgerechnet in der Stadt mit dem größten Hafen Deutschlands fehlt mir die Anbindung“, grübelt sie. Ich rufe niemanden spontan an, um mich am Abend zu verabreden. Ich arbeite an den meisten Tagen, bis es dunkel wird, und gehe anschließend noch ins Fitnessstudio im Keller meines gläsernen Büroturms. Dann renne ich so lange auf dem Laufband, bis ich keine Luft mehr bekomme.“
Und als Resümee schreibt sie: „So richtig glücklich in einer neuen Stadt wird man wohl erst, wenn sich Wiederholungen einschleichen. Wiederholungen, aus denen Rituale werden. Rituale, aus denen Lieblingskneipen mit Lieblingsfreunden an den Tischen werden. Davon bin ich nach einem Jahr noch weit entfernt...“

„So richtig glücklich in einer neuen Stadt wird man wohl erst, wenn sich Wiederholungen einschleichen. Wiederholungen, aus denen Rituale werden.“
Diese Erkenntnis zieht eine junge Karrierefrau aus ihren Erfahrungen des Wohnungswechsels nach Hamburg. Und die macht mich nachdenklich.

Bei uns in der kirchlichen Landschaft ist es anders geworden.
Wir hungern nach Events, nach besonderen einmaligen Erlebnissen. Wollen immer etwas Neues. Was sich wiederholt wird oft als alte Leier abgetan.
Die gleichen Lieder, die gleichen Texte, die gleichen Gesichter, die gleichen Riten, die werden oft als wenig aufregend empfunden. Oft nicht als ruhige Grundmelodie des Lebens, die einen begleitet. Nicht als sicheres Geländer, an dem man sich festhalten kann. Dem allen haftet der Geschmack des ewig Gestrigen an. Es rangiert eher unter der Kategorie „alter Tobak“.

Um Kirche für Menschen heute schmackhaft zu machen, denken wir unsere Gehirne müde, wie wir einen besonderen Anreiz bieten könnten, damit Menschen zu uns in die Gottesdienste kommen oder Kirche überhaupt noch wahrnehmen. Wir denken darüber nach, wie wir in besonderen familienfreundlichen Gottesdiensten und Jugendkirchen den alten Schatz unseres Glaubens im neuen Kleid für die junge Generation attraktiv machen könnten.

Sicherlich: Besondere Events, besondere Veranstaltungen und Angebote können ein neuer Anreiz sein, Kirchenluft zu schnuppern und neues Interesse wecken. Aber die Worte der jungen Journalistin, die gerne in der neuen Stadt ein Stückchen Heimat finden würde, gehen mir nicht aus den Kopf:

„So richtig glücklich in einer neuen Stadt wird man wohl erst, wenn sich Wiederholungen einschleichen. Wiederholungen, aus denen Rituale werden.“

Trifft das nicht genau auch auf unsere Kirche, auf unsere Pfarrgemeinden zu:
So richtig heimisch wird man in der Kirche erst, wenn sich Wiederholungen einschleichen. Wiederholungen, aus denen Rituale werden.
Gibt es nicht erst richtig „Heimat in St. Kilian“ - was ja das Motto Eurer Pfarrei ist -, wenn mir immer wieder vertraute Gesichter begegnen, wenn ich durch dauernde Wiederholungen den Stallgeruch meiner Heimatkirche ganz unbewusst in mich aufsauge. Wenn ich mich dabei ertappe, dass ich im Gottesdienst meinen Stammplatz gefunden habe und weiß, wer vor mir, neben mir und hinter mir seinen Stammplatz hat, wenn ich draußen vor der Kirchentür Leute treffe, denen ich sonst kaum begegne.

Finde ich nicht erst richtig Heimat im Glauben, wenn mir Lieder und Gebete durch dauernde Wiederholungen in Fleisch und Blut übergegangen sind und ich sie auswendig kann? Die für mich auch in der Not und der Krankheit und selbst in der Demenz wie eine Kette sind, an der ich mich anhalten kann?

Glaube kann durch besondere Events angezündet werden, aber er wächst und vertieft sich nur durch dauernde Wiederholungen. Jeder Sonntag hilft mir, neu darüber nachzudenken, welchen neuen Impuls gibt mir heute der altbekannte Text aus der hl. Schrift für meine heutige Lebenssituation. Jede Eucharistiefeier will durch dauernde Wiederholung die Lebenshaltung Jesu in mich eintröpfeln lassen, nicht als Egoist durch die Welt zu stampfen, sondern auch an andere zu denken und für andere Menschen etwas zu tun. An nichts anderes wollen die erhobene Hostie, der erhobene Kelch und die Worte „für euch“ erinnern und zu dieser Lebenshaltung einladen.

Liebe Leser,

ich behaupte: ohne Wiederholung, ohne Rituale kann es keinen Glauben auf Dauer geben. Deshalb schärft schon das Buch Deuteronomium den Israeliten ein: „Diese Worte sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen. Du sollst sie deinen Söhnen wiederholen. Du sollst von ihnen reden, wenn du zu Hause sitzt und wenn du auf der Straße gehst, wenn du dich schlafen legst und wenn du aufstehst.“ Auch unser christlicher Glaube lebt von Wiederholungen und wird von Ritualen getragen.

In unserem Hunger nach Neuheit, Event und Erlebnis stehen wir in der Gefahr, diese Weisheit zu vergessen. Ich bin der jungen Journalistin dankbar, dass sie mir diese Weisheit wieder einmal ganz bewusst gemacht hat. Wie meinte sie?
„Heimat findet man wohl erst, wenn sich Wiederholungen einschleichen. Wiederholungen, aus denen Rituale werden.“


Fürbitten

Herr, unser Gott. Die Pfarrei St. Kilian feiert an Kiliani ihren Kirchenpatron und ihr Pfarrfest. Das ist für sie alte Tradition und bedeutet Heimatgefühl. Wir bitten dich:

Orte und Landschaften können Heimat sein.
Wir beten für alle Menschen, die starke Wurzeln an ihrem Wohnort haben und sich dort wohlfühlen, und wir beten für alle Heimatlosen, die völlig entwurzelt einer unsicheren Zukunft entgegengehen.

Beziehungen stiften Heimat und schenken Geborgenheit.
Wir beten für alle Menschen, die wir gern haben und die uns gern haben.

Eine Kirche und eine Pfarrgemeinde kann Heimatgefühl stärken. Wir beten für unsere Pfarrgemeinde. Für alle, die selbst diese als Heimat empfinden und sich durch ihre Mitarbeit bemühen, dass sie auch für andere zur Heimat werden kann.

Gebete und Lieder sind geistige Heimatorte, die Sicherheit geben. Mögen sie uns Halt und Trost auch in schwierigen Lebensphasen geben

„Ein Ort wird dir erst dann zur Heimat, wenn du an ihm ein Grab hast“, meinte ein spanischer Dichter.
Wir beten für die Verstorbenen aus unserer Familie und für alle Verstorbenen unserer Pfarrei.

Darum bitten wir dich durch Christus, unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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