Gott stellt keine Vogelscheuchen auf

Predigt zum 11. Sonntag im Jahreskreis (Mk 4,26-34)

Einleitung
Das Senfkorngleichnis des heutigen Evangeliums hat bei uns in der Kirche in den 70-er, 80-er Jahren Karriere gemacht. Es ist als ein beliebtes Lied in das neuere geistliche Liedgut eingegangen: „Kleines Senfkorn Hoffnung, mir umsonst geschenkt, werde ich dich pflanzen, dass du weiter wächst? Dass du wirst zum Baume, der uns Schatten wirft, Früchte trägt für alle, die in Ängsten sind.“ Ein zuversichtliches und Hoffnung machendes Lied.
Wenn wir aber auf das biblische Senfkorngleichnis genau hinhören, ob es dann wirklich den ursprünglichen Sinn trifft? Das wage ich zu bezweifeln.

Predigt
Heute haben wir zwei Wachstumsgleichnisse als Evangelium gehört. Mit Staunen wird uns im ersten Gleichnis vor Augen geführt: Der Bauer sät Getreide aus. Das Korn keimt und wächst bis zur Ernte heran, ganz automatisch ohne großes Zutun des Bauern - und der weiß nicht wie.
Nochmals fängt Jesus an, von einem noch kleineren Körnlein zu erzählen, vom Senfkörnlein, das einmal gesät, sich zu einer 2 - 3 m hohen Staude entwickelt. Wir bekommen anscheinend ein noch größeres Wunder als vorher vor Augen gemalt: aus dem kleinsten Samenkorn kann so etwas Großes werden!
Doch mit dieser gängigen Auslegung haben wir uns gründlich getäuscht. In den Ohren der damaligen Zuhörer wirkte dieses Gleichnis vom Senfkorn ganz anders als das Gleichnis vom wachsenden Korn. Denn das Senfkorn ist im Gegensatz zum Getreidekorn ein Unkraut. Das sät auch im Unterschied zum ersten Gleichnis kein Bauer. Es heißt: Es wird gesät. Antike Zuhörer fragen: Steckt da Gott dahinter? Gott - ein Liebhaber von Unkraut?

Bauern zur Zeit Jesu wissen: Hüte dich vor der Senfkornstaude! Das ist das schlimmste Unkraut, das man sich vorstellen kann. Ist erst einmal ein Körnchen auf dem Acker oder gar in deinem Garten aufgegangen, dann wächst es rasend schnell und nimmt anderen Pflanzen Licht und Nährstoff. Und noch dazu: Wenn es erst einmal Samen geworfen hat, ist an „Ausrottung“ nicht mehr zu denken. So steht es im umfassenden Naturkundelexikon der Antike aus der Feder des Plinius des Älteren.

Bauern und Gärtner wissen noch dazu: Vögel auf einem Baum mitten im Feld oder im Garten sind keineswegs nur idyllische Gäste, die munter ihr Liedlein trällern. Nein, sie stellen eine Gefahr für die Ernte dar. Denn sie haben es auf die Körner abgesehen. Vogelscheuchen werden bis heute nicht ohne Grund aufgestellt.

Was will dann Jesus mit diesem provozierenden Senfkorngleichnis sagen?
Ich meine zu ahnen, seine Botschaft lautet so:

1. Der himmlische Gärtner, der das Senfkorn aussät, das heißt die Botschaft vom Reich Gottes, ist unberechenbar. Er lässt sich nicht vorschreiben, wohin er säen darf und wohin nicht. Die Sehnsucht nach Glauben, die beginnt oft in Menschen zu keimen und zu wachsen, wo niemand es vermutet hätte. Die Idee vom Reich Gottes wird nie unterzukriegen sein.

2. Der himmlische Gärtner ist nicht ängstlich um seine Ernte besorgt. Die Ernte ist so groß, dass sogar mancher „bunte“ oder sogar „schräge Vogel“ im Reich Gottes Platz findet. Sie ist so sicher, dass auch die unerwünschten und lästigen Gäste Platz finden. Gott stellt keine Vogelscheuchen auf. Er vertreibt keinen. Das Reich Gottes ist ein großer Baum, der nach allen Seiten offen ist und großzügig einlädt - nicht nur zur Mitarbeit!

Dieses unverschämte Vertrauen Jesu: Die Idee vom Reich Gottes, der Glauben an Gott behält sich immer Überraschungen vor und wird nie unterzukriegen sein, könnte uns vor manchem Erfolgsdruck, den wir in Bezug auf die Glaubensweitergabe spüren, entlasten
Diese Offenheit, dieses Raumangebot im Baum des Gottesreiches macht deutlich: Hier ist niemand unerwünscht. Und warnt zugleich davor, Vogelscheuche spielen zu wollen.


Pfarrer Stefan Mai

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