Die Sehnsucht nach einem Himmelsschlüssel

Predigt zum Fest Christi Himmelfahrt 2012 (Apg 1,1-11)

Predigt

Ein Märchen erzählt, wie die Schlüsselblume zum Namen Himmelsschlüssel kam:
Es lebte einmal ein großer, reicher König zu einer Zeit, in der noch alle Menschen den hohen Berg kannten, auf dessen Gipfel die Tore des Himmels gebaut sind.
Bei all seinem Reichtum sehnte sich der König danach, auch die Schlüssel zu den Toren des Himmels zu besitzen; aber keiner konnte sie ihm bringen.
Eines Tages sagte ihm ein weiser Mann: "Alle Schätze der Erde kann man geschenkt bekommen, aber die Schlüssel zum Himmel muss jeder selbst suchen."
Da stieg der König selber auf den steilen Berg bis vor die Tore des Himmels und sagte dem Engel, dem Hüter vor Gottes ewigem Garten: "Ich finde keine Ruhe, bis ich nicht die Schlüssel zum Himmel besitze."
Der Engel lächelte und antwortete: "Auf der Erde blühen viele tausend Himmelsschlüssel, die von Menschen zertreten werden. Wenn du die richtigen drei findest, die nur zu deinen Füßen und für dich aufblühen, kannst du die Tore des Himmels aufschließen."

Viele Jahre suchte der König und zertrat keinen Himmelsschlüssel, doch nie blühte eine dieser Blumen vor seinen Füßen auf. Eines Tages bettelte ihn ein schmutziges Mädchen an, das weder Vater noch Mutter hatte. Das Hofgesinde wollte das verwahrloste Kind zur Seite drängen, aber der König setzte es zu sich aufs Pferd. In seinem Schloss ließ er es speisen und kleiden und pflegen. Da blühte zu seinen Füßen ein kleiner, goldener Himmelsschlüssel auf.
Und der König ließ die Armen und Kinder in seinem Reich zu seinen Brüdern und Schwestern erklären.
Wieder vergingen Jahre. Da erblickte der König auf einem Ritt durch den Wald einen sehr kranken Wolf. Die Höflinge wollten ihn verenden lassen, er aber trug ihn in seinen Palast und pflegte ihn selbst gesund. Und der Wolf wich nie mehr von seiner Seite.
Da blühte ein zweiter goldener Himmelsschlüssel zu seinen Füßen auf. Der König aber ließ von nun alle Tiere in seinem Reich zu Brüdern und Schwestern erklären.
Wieder vergingen einige Jahre. Da spazierte der König in seinem herrlichen Garten mit den seltensten Blumen. Und er erblickte am Wegrand eine kleine unscheinbare Pflanze, die nahe daran war zu verdursten. "Ich will ihr Wasser bringen", sagte der König. Doch der Gärtner wollte ihn hindern: "Es ist Unkraut; ich will es ausreißen und verbrennen; es passt nicht in diesen königlichen Garten!" –
Der König aber holte Wasser, und die Pflanze begann wieder zu atmen und zu leben. Nun blühte der dritte Himmelsschlüssel zu des Königs Füßen auf, und das Bettelmädchen und der Wolf standen dabei. Der König aber sah auf dem steilen Berge die Tore des Himmels weit, weit geöffnet.
Auch heute blühen diese drei Himmelsschlüssel noch und sie leuchten heller und schöner als alle Edelsteine und Blumen der Welt.

Schlüssel zum Himmel, das sind nicht ekstatische Momente, das sind nicht erdenthobene spirituelle Himmelsreisen. Himmelsschlüssel, so sagt das Märchen, das eine Erklärung für den Namen der Schlüsselblume sucht, sind: Das was auf dieser Erde geschieht ernst nehmen. Vor allem die Momente, wo ich herausgefordert bin, achtsam und hilfsbereit zu handeln.

Meint nicht die Himmelfahrtserzählung das gleiche? Die Apostel schauen verwundert zum Himmel empor, wie Jesus langsam ihren Blicken entzogen wird. Und da wird ihr Blick von den Himmelsboten wieder in die Realität des Alltags gelenkt. „Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?“
Ein Himmelsschlüssel ist: Hier auf dieser Erde ernst nehmen, was mir begegnet!


Pfarrer Stefan Mai

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