Worte, die ein Leben begleiten

Predigt zum Gut-Hirten-Sonntag 2012

Eines Tages kommt ein Arzt zum schwäbischen Malerpfarrer Sieger Köder und gibt ihm den Auftrag, zu seinem Hochzeitsjubiläum den Psalm 23 zu malen. Denn, so erzählt er, sein Lebensspruch als Protestant seit seiner Konfirmation war der Psalm 23. Eigentlich hatte er sich damals als junger Bub sehr darüber geärgert. Der Religionslehrer, der ihn nicht leiden mochte, gab ihm diesen ganzen Psalm auf, während die anderen nur einen einzigen Satz auswendig lernen mussten. Er hatte ihn gehasst, den Lehrer und den Psalm.

Einige Jahre später musste er als Soldat unter General Rommel in die Wüste nach Afrika einrücken. Fast Tag und Nacht sitzt er im Panzer, die Hälfte seiner Kameraden ist gefallen. Da kommt ihm urplötzlich der Psalm 23 in den Sinn, den er vor Jahren unwillig als Konfirmand lernen musste: Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Ich fürchte mich nicht, denn du bist bei mir.
Unaufhörlich murmelt er in dieser Situation auf Leben und Tod die Worte dieses alten Vertrauenspsalms.
Er überlebt, muss aber dann sofort nach Russland, nach Leningrad einrücken. Auch dort geht es um Leben und Tod. Er erlebt verängstigte und schreiende Kameraden. Und jetzt wird er zum Lehrer und bringt ihnen den Psalm 23 bei. Er sagt ihnen: „Liebe Freunde, wir haben einen Psalm, den sollt ihr auswendig lernen, damit wir ihn immer wieder beten können.“ Wie oft beten sie ihn dann miteinander.
Er überlebt, kommt heim, findet eine Frau und heiratet sie. Nach fünf Jahren Heirat entdecken die Ärzte, dass seine Frau unheilbaren Krebs hat. So betet er wiederum, diesmal zusammen mit seiner Gattin den Psalm 23. Jeden Morgen, mittags und abends. Auch sie überlebt. Jetzt feiern sie ihr 40-jähriges Hochzeitsjubiläum. Und zu diesem Fest möchte er seiner Frau ein Bild zu diesem Psalm schenken. Eine bleibende Erinnerung an diesen Lebensbegleiter und Lebensretter: Der Herr ist mein Hirt, nichts wird mir fehlen. Ich fürchte mich nicht, denn du bist bei mir.

Ich weiß, nicht immer gehen Lebensgeschichten so gut aus wie bei diesem Arzt. Aber ich erzähle Ihnen diese Geschichte heute zum Guthirten-Sonntag, weil ich glaube, dass auch heutige Menschen, solche lebensbegleitende und lebensstärkende Worte zum Leben brauchen. Ich habe Angst, dass wir einmal keine Lieder mehr singen und keine Gebete mehr sprechen können, die uns das Gefühl geben: Wir werden von einer guten Macht getragen und geführt. Es ist einer da, wenn wir uns im Leben reich beschenkt vorkommen, aber auch dann, wenn es durchs dunkle Tal geht.

Generationen vor uns haben die Menschen solche Lieder und Gebete durch dauernde Wiederholung in ihren Gottesdiensten auswendig gelernt und tief ins Gedächtnis eingespeichert. Und sie sind in ihnen tief aus dem Unbewussten aufgestiegen, wenn es ihnen im Leben die Sprache verschlagen hat oder sie nicht mehr weiter wussten. Gebete, gute Gedanken, Lieder, Melodien, Bibelworte können der verlängerte Arm dieses guten Hirten sein, wenn uns einmal vieles aus der Hand geschlagen wird oder wir nicht mehr weiter wissen. Nie werde ich die Worte des Vaters vergessen, der seinem Kind ins Gesangbuch die Worte schrieb: „Mögen die Lieder und Gebete auch dir den Halt und den Trost geben, den sie uns im Leben gegeben haben.“

So vieles wird heute Kindern in die Köpfe gebläut, was wir für wichtig halten. So vieles müssen wir als Erwachsene dauernd dazu lernen. Werden wir aber auch in Zukunft noch dieses Lebenswissen haben: Es werden auf jeden Menschen einmal Lebenssituationen zukommen, wo solche tief im Unterbewussten gespeicherte Worte wie Ketten sein können, an denen man sich festhalten kann? Was könnten für mich einmal solche Worte sein?


Pfarrer Stefan Mai

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