Bist du zufrieden?

Predigt zum 2. Sonntag nach Ostern (Joh 20, 19-31)

Zwei treffen sich auf der Straße. „Na, wie geht’s?“ fragt der eine. „Ach, ich bin zufrieden“, meint der andere. „Das klingt ja gerade nicht berauschend“, meint wiederum der andere.

Eine kleine Alltagsszene, die deutlich macht, dass zufrieden sein in einer Erlebnisgesellschaft nicht gerade in der höchsten Klasse der Glücksgefühle rangiert, da gibt es aufregenderes und erstebenswerteres.

Ganz anders bei dem Stamm der Gabra, der im Norden Kenias lebt. Wenn ein Gabra dem anderen begegnet, dann begrüßt er ihn mit der Frage „Nageni badada?“, d.h. „bist du im Frieden?“. Der andere antwortet: „Badada ke badada!“ „Ich bin im Frieden! Wie steht es um deinen Frieden ?“
Im Frieden sein, zufrieden sein, im Einklang mit sich selbst, mit den Menschen, mit denen ich lebe, mit der gesamten Schöpfung - das ist für die Gabra, die Nomaden sind, etwas großes, das höchste Gut.

Auffallend ist, dass Jesus nach der Auferstehung im Johannesevangelium die Jünger mit den Worten begrüßt: „Friede sei mit euch!“ Und als ob der Friedensgruß einmal nicht tief genug geht, wiederholt er ihn noch einmal: „Friede sei mit euch!“
Nach der Achterbahn der Gefühle, nach dem kläglichen Versagen im Ölgarten, nach der Angst, die sie dazu bringt, sich zurückzuziehen und sich zu verbarrikadieren, tritt Jesus in die Mitte und wünscht: „Der Friede sei mit euch.“

Kein anderer als Johann Sebastian Bach hat für mich diesen Friedensgruß Jesu so großartig interpretiert. Da stellen die Violinen das Durcheinander der Gefühle der Jünger dar und da bringt die tiefe, ruhige Stimme Jesu mit dem Friedensgruß Ordnung und Ruhe in das Chaos. Und man spürt: Welch ein Segen, wenn Menschen, die völlig durcheinander und durch den Wind waren, durch einen Menschen, der Frieden ausstrahlt, wieder runterfahren , Schuldgefühle vergessen und neu beginnen können. Und ich spüre aus dieser Ostererzählung: Wer mit sich in Frieden lebt, weil er durch den Atem der Vergebungsbereitschaft angehaucht wurde, der kann auch selbst anderen Vergebungsbereitschaft zeigen.

Liebe Leser, ich werde nie die 100-jährige Frau aus dem Spessart vergessen. Jedes Mal, wenn ich als Kaplan ihr die Krankenkommunion brachte, begrüßte sie mich - ähnlich wie die Gabra es tun - mit den immer gleichen Worten: „Bist du zufrieden?“ Nach ein paar Begegnungen fragte ich sie: „Warum begrüßen Sie mich immer mit dieser Frage: Bist du zufrieden?“ „Ach, weißt du“, gab sie zur Antwort, „wenn man so alt ist wie ich, hat man die Erfahrung im Leben gemacht, dass Menschen, die wirklich zufrieden sind, auch Frieden ausstrahlen und einem gut tun. Und mit unzufriedenen Leuten möchte ich in meinem Alter nichts mehr zu tun haben“.

Die Information von der Grußformel der Gabra stammt aus „Auf ein Wort“, vom 16. April 2012


Pfarrer Stefan Mai

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