Ich will einem Kreuz ins Aug schauen

Predigt zum Karfreitag 2012

Ein muslimischer Student bewarb sich in Deutschland um ein Zimmer. Er fand eines, und zwar in einem katholischen Haus. Die Vermieterin zeigte ihm sein Zimmer. An der Wand hing ein Kreuz. Der Student zeigte auf das Kreuz und sagte: „Das da, das muss weg!“ Erschrocken nahm die Vermieterin das Kreuz von der Wand. Das Bild der Madonna mit dem Kind wollte sie auch gleich mitnehmen, denn sie wollte die religiösen Gefühle ihres neuen Mieters nicht verletzten. „Nein, nein“, sagte der Student, „das kann bleiben, das ist schön“. „Aber das da“, er zeigte auf das Kreuz, „das ist schrecklich, das muss weg!“
Wer will es dem muslimischen Studenten verübeln? Mit nichtchristlichen Augen betrachtet: Wer hängt sich schon einen gemarterten Menschen ins Zimmer? Wer käme schon auf die Idee, sich täglich einer Folterszene auszusetzen?
Das muss man sich bewusst machen: Als Christen urteilen wir anders, weil wir diesen Anblick des Gekreuzigten schon gewohnt sind. Und Gewohnheit stumpft ab. Lässt überhaupt nicht mehr richtig hinschauen. Nimmt das Schreckliche nicht mehr wahr.
Der muslimische Student spricht aus, was ein Kreuz wirklich ist: ein grausames Marterwerkzeug. Er hat recht. Da wird ein Mensch furchtbar gequält. Es ist ein drastisches Bild.
Und am Karfreitag wird die Schau des Leidens noch auf die Spitze getrieben.
In vielen Kirchen sind die Kreuze während der Fastenzeit vierzig Tage lang verhüllt. Und dann am Karfreitag diese Szene: Feierlich wird das Kreuz unter den dumpfen Schlägen der Holzklappern in den Kirchenraum getragen. Im Zeitlupentempo fällt die Verhüllung, und die Blicke werden auf jede Wunde neu ausgerichtet: zuerst auf das dornengekrönte Haupt, dann auf die Hände, die von Nägeln durchstochen sind – und schließlich sieht man den gequälten Körper insgesamt.
Aber Christen sagen nicht: Das da muss weg! Sondern gehen vor dem Gekreuzigten in die Knie. Schauen zu ihm hoch.
Und sie zeigen damit: Auch der Gequälteste, auch der von allen in die Enge Getriebene hat eine Würde. Und sie spüren: Der Blick auf den Gekreuzigten ist eine Hilfe, wenn es im eigenen Leben eng wird.
Ich werde nie die Frau vergessen, die im Endstadium Krebs in ihrem Krankenhauszimmer lag. Im Zimmer hingen bunte Bilder. Aber etwas hat sie vermisst: Es war kein Kreuz da. Sie hatte nur einen Wunsch: Bitte, lassen Sie in meinem Zimmer ein Kreuz aufhängen. Ich will dem Gekreuzigten ins Auge schauen und wünsche, dass er mich anschaut.


Pfarrer Stefan Mai

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