Auch heute gibt es noch Nikodemusstunden

Predigt zum 4. Fastensonntag (Joh 3,1-7)

Einleitung

„In dunkler Nacht wollen wir ziehen, lebendiges Wasser finden. Nichts als der Durst wird uns leuchten, nichts als der Durst wird uns leuchten.“ Dieses Lied gehört zu den großen Gesängen in Taize. Wenn Menschen dieses Lied in einer fast dunklen Kirche in Taize oder in Taize-Gottesdiensten bei uns singen, dann spüren sie etwas von der Stimmung des Nikodemus, der heute im Evangelium in der Nacht zu Jesus geht.
Viele Menschen sind auf der Suche. Sie haben das Gefühl, wie durch eine dunkle Nacht zu ziehen, möchte Durchblick im Leben, fragen: Wo ist Gott? Vielleicht sind sie misstrauisch gegen die etablierten Religionen und suchen ihre eigene. Vielleicht sind sie christlich getauft und erzogen, aber von ihrem Glauben ist nur noch ein Rest geblieben. Vielleicht sind sie gläubige Menschen, merken aber, dass auch der Glaube die Dunkelheit nicht einfach auflöst. Ein ehrliches Lied:
„In dunkler Nacht wollen wir ziehen, lebendiges Wasser finden. Nichts als der Durst wird uns leuchten, nichts als der Durst wird uns leuchten.“

Predigt

Es ist Nacht. Vorsichtig geht die Tür auf und ein Mann tritt hinaus auf die Straße. Er hat keine Laterne dabei. Er möchte nicht gesehen werden. Immer wieder schaut er sich um und steuert auf ein Haus zu. In diesem Haus soll sich der Wanderprediger aus Galiläa aufhalten. Ganz Jerusalem hat er in den letzten Tagen durcheinandergebracht. Auf viele hat er fast magnetische Anziehungskraft ausgeübt. Die Kollegen aus dem Ratsgremium haben ihn auf dem Kicker. Doch Nikodemus lässt dieser Jesus aus Nazareth nicht in Ruhe. Heimlich schleicht er sich ins Haus und möchte mit ihm ins Gespräch kommen. Und nun sitzen sie sich gegenüber, der vornehme und gebildete Jerusalemer Ratsherr und der Handwerkersohn mit seiner Ausstrahlungskraft. Nikodemus beginnt mit einer Ehrerbietung:

Rabbi, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, wenn nicht Gott in ihm ist

Eine geschickte Gesprächseröffnung. Doch die Ehrerbietung wird sogleich ins rechte Maß gesetzt, indem Nikodemus feststellt: Wir wissen... Wir - das sind die Mitglieder des Hohen Rates, allesamt angesehene Theologen, gebildet und lebenserfahren.
Nikodemus beansprucht Gleichrangigkeit, will auf gleicher Augenhöhe mit Jesus reden. Sein Geheimnis ergründen. Erfahren, weshalb die Menschen ihm nachlaufen. Und Jesus? Mit einem Satz bringt er den Ratsherrn zum Nachdenken.

Wenn jemand nicht von neuem geboren wird, kann er das Reich Gottes nicht sehen.

Nikodemus ist verwirrt. Neu geboren werden? Das scheint doch etwas merkwürdig zu sein. Zwar hatte er beobachtet, dass die Menschen eine unerklärliche Befreiung gespürt hatten, nachdem sie Jesus begegnet waren. Doch neu geboren? Und so hakt er nach:

Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Er kann doch nicht in den Schoß seiner Mutter zurückkehren und ein zweites mal geboren werden.

Jesus wird nun deutlicher. Dieses Neu-Geboren-Werden ist kein Neu-auf-die-Welt-kommen, ist kein Vorgang, der den Körper des Menschen betrifft. Vielmehr stellt dieses Neu-Geboren-Werden unsere bisherige Existenz auf den Kopf:

Amen, Amen, ich sage dir: Wenn jemand nicht aus Wasser und geist geboren wird, kann er nicht in das Reich Gottes kommen.

Es geht um Veränderung. Es geht um die Frage, wie kann ein Mensch wirklich zu sich kommen, wenn er sich auf Gott einlässt, wie kann er durch den Glauben zu dem werden, was ihn wirklich ausmacht.
Bis heute nennt man ein Gespräch mit Tiefgang, in dem echte Lebensfragen auf den Tisch kommen, Nikodemusstunde. Und bis heute ereignen sich solche Nikodemusstunden.
Sie fahren in der Nacht von einem Geburtstag nach Hause. Es ist ruhig im Auto. Nur das Motorengeräusch als Begleitmusik. Beide schauen hinaus auf die schwarze Straße. Auf einmal fängt sie an: Du, wann haben wir uns das letzte Mal darüber unterhalten, wie es uns wirklich geht, wie wir uns gegenseitig empfinden, was uns aneinander stört, wovon wir noch träumen? Der Mann erschrickt: Es geht uns doch gut und das Leben ist halt so: man hat seine Arbeit und ist damit beschäftigt. Ja das Leben ist so...kontert sie nachdenklich halb leise, aber ist das Leben? Muss nicht mehr Leben ins Leben rein?
Nach langer Zeit treffen sich am Abend wieder einmal zwei Schulfreunde in einer ruhigen Kneipe, essen miteinander und erzählen von früher, erkundigen sich gegenseitig über frühere Schulkollegen und Mitschülerinnen, lachen über so manchen Lehrer und manchen Streich von früher. „Na und wie geht’s eigentlich dir?“ Und plötzlich wird es ruhig.. „Überall sage ich: gut. Aber eigentliche geht es mir ‚beschissen’...“, meint der ehemalige Spaßvogel der Klasse und es bricht aus ihm heraus, was alles in seinem Leben schief gelaufen ist und dass er nicht weiß, wie alles weitergehen soll...
Nikodemusgespräche ereignen sich meistens bei Nacht, im geschützten Rahmen, wenn es in Menschen arbeitet, wenn sie auf der Suche sind. Sie sind nie locker, flockig, leicht. Aber sie können nachwirken und Leben verändern, wie damals bei Nikodemus.

Fürbitten

Wir beten für alle Menschen, zu denen wir großes Vertrauen haben und für alle, die zu uns Vertrauen haben

V: Christus, höre uns A: Christus, erhöre uns

Wir beten für alle, die jegliches Vertrauen in Menschen verloren haben

Wir beten für alle Frauen und Männer, die in Beratungsstellen arbeiten und täglich Sorgen und Probleme hören

Wir beten für alle, die vor einem notwendigen und klärenden Gespräch Angst haben

Wir beten für unsere Verstorbenen. In diesem Gottesdienst denken wie an...


Pfarrer Stefan Mai

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