Etwas gelernt im vergangenen Jahr?

Predigt zum Silvesterabend 2011

Einleitung

Jede große Zeitschrift, ob STERN ob SPIEGEL ob FOCUS, sie alle blicken am Ende des Jahres auf die Welt bewegenden politischen Ereignisse zurück. Vor allem brennen sich bestimmte Bilder in die Hirne ein, seien es die zerstörten Reaktoren von Fukushima, sei es das Gesicht des libyischen Diktators Gaddhafi oder des syrischen Diktators Assad. In kirchlichen Kreisen ist das Bild von Benedikt XVI am Rednerpult des Deutschen Bundestags vor Augen.
Auch die Lokalpresse lässt in Bildern das Jahresgeschehen Revue passieren.
Und jeder Silvestergottesdienst ist eine Art Jahresrückblick. Hier geht es um unser eigenes Jahr, um unser persönliches Leben, mit seinen Höhen und Tiefen, seinen Freuden und Sorgen. Wir lassen es vor unseren Augen – und vor Gott Revue passieren …

Predigt

„Il faut toujours apprendre“, diesen Satz sagte uns damals beim Studium vor über dreißig Jahren in Jerusalem der Direktor des französischen Bibelinstituts im gütigen Ton: „Il faut toujours apprendre/ Man muss immerzu lernen.“
Was sich dieser alte Professor von seinen Studenten gewünscht hat, das gilt in der heutigen Zeit für alle Lebensalter und für alle Berufssparten. Die Entwicklungen gehen rasant. Wer nichts dazulernt, der ist schnell abgehängt. Die langjährige Betriebszugehörigkeit oder allein das Lebensalter genügen nicht mehr. Das sieht man an diesem Beispiel:
Da wurde ein langjähriger Mitarbeiter in einer Firma zugunsten eines jüngeren Angestellten bei einer Beförderung übergangen. Er stürmte daraufhin wütend in das Büro seines Chefs, um sich zu beschweren. „Vergessen Sie nicht,“ brüllte er, „ich habe immerhin 25 Jahre Erfahrung hier in diesem Laden!“ „Nein“, antwortete der Chef ruhig, „Sie haben ein Jahr Erfahrung – und das 25 Mal!“
Was der Chef damit meinte, ist klar: Der beleidigte Mitarbeiter hatte nicht so furchtbar viel dazugelernt, obwohl er 25 Jahre im Betrieb war. Er ist stehen geblieben, hat sich nicht weiterentwickelt. Das ist für einen Mitarbeiter in einem modernen Unternehmen ein vernichtendes Urteil. Die Herausforderung besteht darin, in jedem Jahr ein Stück Erfahrung dazuzugewinnen. In jedem Jahr seine Person weiterzuentwickeln.
„Haben Sie etwas gelernt in diesem Jahr?“, mit dieser Frage hat eine Zeitschrift ihre Leser zum Jahresende konfrontiert. Gemeint ist nicht, was ich an Sachwissen gelernt habe. „Haben Sie etwas gelernt in diesem Jahr?“, gemeint ist damit, ob ich lebensweiser geworden bin: ob ich aus meinen guten und schlechten Erfahrungen Lehren gezogen habe, die mir im nächsten Jahr helfen, in ähnlichen Situationen klüger zu reagieren.
Haben Sie im vergangenen Jahr Ihrer Meinung nach etwas dazugelernt? Machen wir gleich den Test:

1. Frage: Haben Sie im letzten Jahr gelernt, besser mit sich selbst umzugehen und zurechtzukommen? Sind Sie ein Stück mehr den Ausreden auf die Schliche gekommen, mit denen Sie sich selbst austricksen? Haben Sie etwas entdeckt, was Ihnen guttut, was Sie weiterbringt, was Sie häufiger tun sollten? – Musik –

2. Frage: Haben Sie im letzten Jahr gelernt, besser mit anderen zurechtzukommen? Mit Menschen, mit denen Sie sich schwertun? Haben Sie Züge am anderen entdeckt, die Sie schätzen können und die Ihnen helfen, ihn besser zu verstehen? – Musik –

3. Frage: Hat sich Ihre Glaubensgeschichte weiterentwickelt? Sind Ihnen durch Fragen oder Zweifel oder Erlebnisse neue Seiten an Gott aufgegangen? Sind Sie auf einen Satz gestoßen, der Ihnen nicht aus dem Kopf gehen will, Sie begleitet und Ihnen Halt gibt? – Musik –

Liebe Leser,
„il faut toujours apprendre“, meinte der alte Bibelgelehrte Abbé Tournay in Jerusalem. „Haben Sie etwas gelernt in diesem Jahr“, lautet die Frage einer Zeitschrift zum Jahresende.
Davon bin ich überzeugt: Derjenige wird zufrieden auf das vergangene Jahr zurückschauen, der sich ehrlich eingestehen kann: Ja, auch in diesem Jahr habe ich wieder ein klein wenig gelernt.

Fürbitten

Herr, unser Gott, jedes Jahr stellt seine Anforderungen an uns, jedes Jahr gibt es leichte und schwere Strecken. Es gibt Glück und Leid. Und aus allen Situationen können wir etwas lernen.

Wir antworten immer mit dem Ruf: Lass uns lernen, Herr.


Durchhaltevermögen in allen Belastungen …
Dankbarkeit in allem Schönen …
Geduld in allen schweren Aufgaben …
Freude in allen Erfolgen …
Mut zum Neuanfang in allen Rückschlägen …
Nachsicht mit den Fehlern anderer
Das Annehmen von berechtigter Kritik …

Wir schauen bewusst auf das Lebensbeispiel Jesu und bitten:

Lass uns von dir lernen, Herr.
Von deiner Freude am Erzählen …
Von deinem urteilsfreien Zugehen auf Menschen …
Von deinem Mut, offen für Benachteiligte einzutreten …
Von deinem unverschämten Gottvertrauen …
Von deiner pfiffigen Schlagfertigkeit …
Von deiner Fähigkeit, Menschen zum Nachdenken zu bringen …
Von deiner konsequenten Haltung …


Pfarrer Stefan Mai

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