Wolf wird Mensch

Predigt zur Weihnachtsmette

Einleitung in die Christmette

„In jener Zeit erließ Kaiser Augustus den Befehl...“ Viele von uns können den Text des Weihnachtsevangeliums fast auswendig. Wir lieben die feierliche Melodie, mit der es in der Mette vorgesungen wird. Die Bilder vom Stall und in der Krippe haben zu allen Zeiten die Phantasie angeregt. Die Maler haben den Ochs und den Esel an die Krippe gestellt. Sie ließen die Engel musizieren. Die Dichter lassen die Tiere sprechen - und so wird das Weihnachtsgeschehen in immer neuen Geschichten, Legenden und Liedern ausgedeutet.
Einer von ihnen ist Karl-Heinrich Waggerl. Das berühmte Adventssingen war von seinen Legenden rund um das Weihnachtsgeschehen geprägt. Eine seiner bekanntesten Geschichten ist das „Christkind und der Floh“. Diese Geschichte soll uns heute auf die Mette einstimmen.

- Lichter aus -

Predigt

Krippen sind Weihnachtspredigten. Die Figuren an der Krippe reagieren auf das Geschehen von Bethlehem. Die Engel verkünden. Die Hirten eilen zum Stall. Sie gehen in die Knie und beten an. Josef breitet seinen Mantel aus und schützt das Kind. Maria betrachtet es staunend. Und nicht zu vergessen die Tiere: Ochs und Esel wärmen das Kind. Die Schafe schmiegen sich rund um die Krippe. Der niederländische Dichter und Theologe erzählt von einem Tier, das gar nicht in diese friedliche Landschaft passt. Er erzählt von einem bösen Wolf an der Krippe.

Es war einmal ein Wolf. Er lebte in der Gegend von Bethlehem. Die Hirten wussten um seine Gefährlichkeit und waren allabendlich damit beschäftigt, ihre Schafe vor ihm in Sicherheit zu bringen. Stets hatte einer von ihnen Wache zu halten, denn der Wolf war hungrig, listig und böse.
Es war in der Heiligen Nacht. Eben war der wundersame Gesang der Engel verstummt. Ein Kind sollte geboren worden sein, ein Knabe. Der Wolf wunderte sich sehr, dass die rauen Hirten allesamt hingingen, um ein Kind anzusehen. „Wegen eines neugeborenen Kindes solch ein Getue", dachte der Wolf. Aber neugierig geworden und hungrig, wie er war, schlich er ihnen nach. Beim Stall angekommen, versteckte er sich und wartete.
Als die Hirten nach der Huldigung an Jesus sich von Maria und Josef verabschiedeten, hielt der Wolf seine Zeit für gekommen. Er wartete noch, bis Maria und Josef eingeschlafen waren; die ausgestandene Sorge und Freude über das Kind hatten sie sehr müde gemacht.
„Umso besser", dachte der Wolf, „ich werde mit dem Kind beginnen." Auf leisen Pfoten schlich er in den Stall. Niemand bemerkte sein Kommen. Allein das Kind. Es blickte voll Liebe auf den Wolf, der sich, Tatze vor Tatze setzend, lautlos an die Krippe heranschob. Er hatte den Rachen weit geöffnet, und die Zunge hing ihm heraus. Er war schrecklich anzusehen.
Nun stand er dicht an der Krippe. „Ein leichtes Fressen", dachte der Wolf und schleckte sich begierig die Lefzen. Er setzte zum Sprung an. Da berührte ihn behutsam und liebevoll die Hand des Jesuskindes. Das erste Mal in seinem Leben streichelte jemand sein hässliches, struppiges Fell, und mit einer Stimme, wie der Wolf sie noch nie vernommen hatte, sagte das Kind: „Wolf, ich liebe dich."
Da geschah etwas Unvorstellbares - im dunklen Stall von Bethlehem platzte die Tierhaut des Wolfes - und heraus stieg ein Mensch. Ein wirklicher Mensch. Der Mensch sank in die Knie, küsste die Hände des Kindes und betete es an.
Alsdann verließ er den Stall - lautlos, wie er zuvor als Wolf gekommen war - und ging in die Welt, um allen zu künden: Dieses göttliche Kind kann dich erlösend berühren!


Kennen Sie auch solche Wölfe, vor denen man sich fürchtet, denen man besser aus dem Weg geht, deren bissige Bemerkungen weh tun, vor deren stechenden Blicken und fauchenden Äußerungen man Angst bekommt?
Kennen Sie solches Wolfsverhalten in sich selbst? Dass Sie den anderen vor Wut fressen könnten? Dass Sie dem anderen einmal richtig die Zähne zeigen?
Die Legende sagt: Eigentlich sucht der Wolf im anderen und der Wolf in Dir nur eines: Er möchte einmal gestreichelt werden. Die Legende will klar machen, dass hinter mancher Aggressivität eigene Angst und Verletzlichkeit stecken; die bittere Erfahrung, einmal abgelehnt worden zu sein. Hinter bissigen Bemerkungen kommen oft herbe Enttäuschungen zum Vorschein. Hinter dem rabauzigen Getue steckt oft nur die Sehnsucht nach Anerkennung und Geborgenheit.
Liebe Leser, die weihnachtliche Liturgie verkündet als das unfassbare Geheimnis dieser Nacht die Menschwerdung Christ. Genauso groß aber ist das Wunder, wenn aus Wölfen plötzlich wieder Menschen werden. Ich bin überzeugt: Von keinem Tag geht mehr verwandelnde Kraft aus als vom Geheimnis dieser Nacht. Da können Wolfspelze Risse bekommen und neue Menschlichkeit durchbrechen lassen.

Das Christkind und der Floh
von Karl Heinrich Waggerl

Als Josef mit Maria von Nazareth nach Bethlehem unterwegs war, kam der Engel Gabriel heimlich noch einmal vom Himmel herab, um im Stalle nach dem Rechten zu sehen. Der Engel stöberte alles kleine Getier aus dem Stall, die Ameisen und Spinnen und die Mäuse; es war nicht auszudenken, was geschehen konnte, wenn sich die Mutter Maria vorzeitig über eine Maus entsetzte! Nur Esel und Ochs durften bleiben.
Gut so. Aber nicht ganz gut, denn es saß noch ein Floh auf dem Boden der Krippe in der Streu und schlief. Dieses winzige Scheusal war dem Engel Gabriel entgangen, versteht sich, wann hat auch ein Erzengel je mit Flöhen zu tun!
Als nun das Wunder geschehen war und das Kind lag leibhaftig auf dem Stroh, so voller Liebreiz und so rührend arm, da hielten es die Engel unter dem Dach nicht mehr aus vor Entzücken, sie umschwirrten die Krippe wie ein Flug Tauben. Etliche fächelten dem Knaben balsamische Düfte zu und die anderen zupften und zogen das Stroh zurecht.
Bei diesem Geraschel erwachte aber der Floh in der Streu. Es wurde ihm gleich himmelangst, weil er dachte, es sei jemand hinter ihm her, wie gewöhnlich. Er fuhr in der Krippe herum und versuchte alle seine Künste und schließlich, in der äußersten Not, schlüpfte er dem Kinde ins Ohr.
„Vergib mir“, flüsterte der atemlose Floh, „aber ich kann nicht anders, sie bringen mich um, wenn sie mich erwischen. Ich verschwinde gleich wieder, göttliche Gnaden, lass mich nur sehen, wie!“ Er äugte also umher und hatte auch gleich seinen Plan. „Höre zu“, sagte er, „wenn ich alle Kraft zusammennehme und wenn du stillhältst, dann könnte ich vielleicht die Glatze des Heiligen Josef erreichen, und von dort weg kriege ich das Fensterkreuz und die Tür . . .“
„Spring nur!“ sagte das Jesuskind unhörbar, „ich halte stille!“
Und da sprang der Floh. Aber es ließ sich nicht vermeiden, dass er das Kind ein wenig kitzelte, als er sich zurückdrückte und die Beine unter den Bauch zog.
In diesem Augenblick rüttelte die Mutter ihren Gemahl aus dem Schlaf. „Ach, sieh doch“, sagte Maria selig, „es lächelt schon!

Fürbitten in der Christmette

Gott, in dieser Nacht tragen wir unsere Weihnachtswünsche vor dich hin und bitten dich:

Lass uns Menschen sein, die in anderen das Gute sehen können und bewusst den guten Kern in ihnen suchen …

Lass uns Menschen sein, die fair mit den Menschen umgehen, mit denen wir uns schwer tun …

Lass uns Menschen sein, die sich vom Lebensstil Jesu anstecken lassen, und in seinen Worten Orientierung für unser Leben finden …

Lass uns Menschen sein, die vergeben können und nicht hart werden, wenn wir verletzt und enttäuscht werden …

Lass unseren Toten vor deiner Menschenfreundlichkeit und Güte aufgehen, wie du sie eigentlich gemeint hast. Wir beten in diesem Gottesdienst für ……

Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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