An der Kritik wachsen

Predigt zum 2. Adventssonntag 2011 (Mk 1,4-8)

Von der Dichterin Eva Strittmatter stammt folgendes Gedicht mit dem Titel „Lob“:

Ich hab ein Geheimnis entdeckt:
Wir loben einander zu selten.
Kinder wachsen nicht ohne Lob.

Wir lassen einander nur gelten
mit jener schweigenden Toleranz,
die die Fremdheit zwischen uns steigert
Und jeder wartet auf das Wort.
Das einer dem anderen verweigert.


Eva Strittmatter bringt mit ihren Reimen die Erfahrung auf den Punkt, dass ein Kind für eine gesunde Entwicklung Anerkennung und Lob braucht, dass es Zutrauen zu sich und ins Leben gewinnt, wenn es spüren darf: Meine Eltern, meine Lehrer nehmen wahr, wie ich mich bemühe. Was für Kinder gilt, das gilt auch für Erwachsene.
Aber Eva Strittmatter entdeckt auch und erschrickt fast darüber. Obwohl wir das alles wissen: „Wir loben einander zu selten ... Wir lassen einander nur gelten mit jener schweigenden Toleranz ...“ Einander nur gelten lassen, davon ist sie überzeugt, kein Interesse am anderen zeigen, fördert Anonymität, Fremdheit zwischen Menschen und ein flaues Lebensgefühl.

Ich möchte diesem Gedicht von Eva Strittmatter eine zweite Strophe hinzufügen:

Ich hab ein Geheimnis entdeckt:
Ehrliche Kritik üben wir aneinander zu selten.
Menschen wachsen nicht ohne Kritik.

Wir lassen einander nur gelten
mit jener schweigenden Toleranz,
die die Fremdheit zwischen uns steigert
Und jeder wartet auf das Wort.
Das einer dem anderen verweigert.


Kritik nicht um der Kritik willen. Kritik nicht, um dauernd am anderen herumzunörgeln und ihn fertig zu machen. Sondern Kritik, die dem anderen zurückmeldet, wo seine Wachstumspotentiale liegen könnten. Wenn Eltern bei Kindern einfach alles laufen und gelten lassen, wenn Ehepartner nicht zurückmelden, was sie aneinander stört, wenn Freunde und Arbeitskollegen sich nicht trauen, einander mitzuteilen, womit sie sich am anderen schwer tun, dann schleicht sich eine seltsame Fremdheit zwischen Menschen ein, obwohl man dem anderen nichts getan hat. „Wenn er mich nur einmal richtig anschreien würde, das würde mir nicht so weh tun, wie seine schweigende Toleranz,“ meinte einmal eine Frau.

Echte Kritik üben, die einen im Leben weiterbringt, ist nicht leicht. Und Menschen spüren sehr genau, ob ich durch Kritik nur heruntergemacht werde oder ob sie mir bei meiner Entwicklung hilft, auch wenn sie momentan vielleicht schmerzhaft ist.

Johannes der Täufer muss eine solche Gestalt gewesen sein. Seine Umkehrpredigt muss den Finger in die Wunden von Menschen gelegt haben. Aber Menschen müssen sich dadurch nicht abgekanzelt, sondern angesprochen gefühlt haben. Durch seine oft auch harschen Worte müssen sie zum Nachdenken gekommen sein und auch den Mut gefunden haben, ihr Verhalten zu ändern. Sonst könnte ich es mit nicht erklären, dass es heute im Evangelium heißt: „Ganz Judäa und alle Einwohner Jerusalems zogen zu ihm hinaus; sie bekannten ihre Sünden und ließen sich von ihm taufen.“

Eines können wir von ihm lernen; Kritik üben nicht von oben herab, sondern als Dienst am Menschen in einer demütigen und nicht selbstherrlichen Art, darauf warten auch heute Menschen. Solch gelungene Kritik ist immer ein Bemühen um einen Dialog und niemals „Waffe“.


Pfarrer Stefan Mai

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