Wachet auf... - Ein Lied gegen den schwarzen Tod

Predigt zum 32. Sonntag im Jahreskreis (25,1-13)

Wir schreiben das Jahr 1597. Ein lauer Sommerabend in der westfälischen Kleinstadt Unna.
Pfarrer Philipp Nicolai sitzt in seiner Stube. Draußen in den Gassen der Stadt ist es ruhig und dunkel geworden. Hier von seinem Fenster aus blickt er direkt auf den Friedhof, der die große Stadtkirche von Unna umgibt.
Auf einmal hört er Lärm, Schritte, Stimmen, ein Schrei. Es pocht an seiner Tür. Philipp Nicolai springt auf: „Haben Sie es schon gehört, Herr Pfarrer, wissen Sie es auch schon…Gott steh uns bei….der Stadtgraben liegt voll mit toten Ratten…“
Betretene Gesichter, immer mehr Menschen kommen in der Gasse zusammen. Tote Ratten im Stadtgraben - was das bedeutet weiß jeder hier.
Der schwarze Tod, die Pest ist im Anmarsch. Seit mehr als 100 Jahren zieht sie quer durch Europa, schickt ihre Vorboten: Zuerst sterben immer die Tiere. Jetzt ist alles andere nur noch eine Frage von Tagen.
Wenige Wochen später schreibt Pfarrer Nicolai an seinen Bruder:
„Die Pest wütet furchtbar hier in der Stadt, täglich werden zwischen 14 und 20 Menschen beerdigt. Meinem lieben Kollegen habe ich vor ein paar Tagen die Leichenpredigt gehalten. Der Küster besucht die Kranken und ich predige. Ich bin durch Gottes Gnaden noch ganz gesund, wenn ich gleich von Häusern, die von der Pest angesteckt sind, fast umlagert bin und auf dem Kirchhof wohne. Beinahe 800 Menschen hat die Pest in dieser Stadt schon getötet.“
Es vergehen viele Wochen. Ein Drittel der Bevölkerung Unnas rafft die Pest in diesem Herbst hinweg.
Wie können Menschen das aushalten? Mütter, Väter? Wie kann ein Pfarrer das aushalten, über Wochen hinweg jeden Tag zwanzig Menschen zu beerdigen?
Woher kommt Trost in solchen Zeiten? Woher kommt die Kraft für den nächsten Tag?
Philipp Nicolai ist 41 Jahre. Er hat schon viel durchgemacht in seinem Leben. Musste sich mehr als einmal durchbeißen. Damals nach dem frühen Tod seiner Mutter und mancher Geschwister. Auch später im Studium, wo er das Essen für die nächste Woche oft genug selbst verdienen musste.
Nichtsdestotrotz: Diese fünf Monate in Unna im Jahre 1597 übersteigen alles, was er bis dahin erlebt hat.
Das Verrückte: Gerade in dieser furchtbaren und trostlosen Zeit schreibt er ein kleines Büchlein. „Freudenspiegel des ewigen Lebens“ heißt es. Darin finden sich auch zwei Lieder, die zu den schönsten unseres Gesangbuches gehören.
Wie schön leuchtet der Morgenstern und das Lied: Wachet auf ruft uns die Stimme

Orgel


In einer Phase von Schrecken, Leid und Trauer entstand dieses Lied: Wachet auf, ruft uns die Stimme. Und stellt die Frage:
Wie trösten sich Menschen in solchen Zeiten?
Was stärkt dann, was trägt hindurch?
Woran kann man glauben, worauf noch hoffen.
Wenn man den Text dieses Liedes von Philipp Nicolai liest, dann denkt man: Seine Strategie war, sich wegzuträumen aus dem harten Alltag. Seine Strategie war, zu fliehen aus der Welt von Krankheit und Tod in jene andere, die Gott uns versprochen hat.
Vor allem die dritte Strophe dieses Liedes scheint so ganz und gar nicht in die finstere Pestzeit zu passen:

Gloria sei dir gesungen,
mit Menschen und mit Engelszungen
mit Harfen und mit Zimbeln schön.
Kein Aug hat je gespürt,
kein Ohr hat mehr gehört
solche Freude.
Des jauchzen wir und singen dir
Das Halleluja für und für.


Das Bild, das Philipp Nicolai hier entwirft, ist ungetrübt: Ein großes Fest im Saal der Freude und sie singen: „ Halleluja für und für“.
Was meinen Sie: Haben diese Worte die Kraft zu trösten?
Haben sie sie damals gehabt? Damals in Unna?
Haben sie es heute?
Ich höre vor allem eines aus diesem Lied heraus: Das, was jetzt ist, das was Ihr jetzt erlebt, ist nicht alles. Es gibt nicht nur den Tod. Es gibt nicht nur die Trauer, es gibt nicht nur das Vergehen.
Schaut hin, hört hin, seid wachsam. Es gibt eine Zeit, in der das alles ein Ende haben wird. Es gibt wieder Freude und Jubel, Wärme und Licht.
Das sagen die Worte dieses Liedes, das sagt aber auch jeder Ton seiner Melodie.
Philipp Nicolai wollte trösten. Seine eigene Seele, aber auch die seiner Mitmenschen. Er hat es versucht mit diesem Bild aus der Bibel, dem Bild vom Freudenmahl am Ende der Tage, wo Christus sich mit den Menschen vereint und Leid und Geschrei ein Ende haben. Am Ende stehen Leben, Licht und Klang, der Freudensaal, das Gloria. Er hat versucht ein Glücksbild als Kontrast zum erlebten Schreckenszenario zu entwerfen und versucht dieses Bild mit einer Melodie zu verstärken, die sich seitdem in die Herzen vieler Menschen gegraben hat.
Philipp Nicolai sagt mir ein Zweifaches:
1. Wenn du Schweres durchstehen willst, brauchst du Hoffnungsbilder, die du anschauen kannst, die deinen gesenkten Blick wieder nach oben reißen.
Ich werde nie die Worte eines sehr erfahrenen Klinikseelsorgers vergessen, der uns vor 30 Jahren einmal sagte: Ich sehe täglich so viel Leid, jeden Tag schmerzverzerrte Gesichter, jeden Tag erlebe ich Sterben und Tod. Da brauche ich alle paar Wochen eine Gegenwelt: Glanz, Schönheit, zauberhafte Musik. Deshalb gehe ich immer wieder in die Oper.
2. Gerade, wenn der Alltag sehr schwer ist, wenn er düster ist, darf ich nicht aufhören „Gloria“ zu singen.
Die Geschichte von Konrad Adenauer geht mir nie aus den Kopf: Wie eines Tages ein Freund zu ihm kam und furchtbar weinte, weil er über den Tod seiner Frau nicht hinwegkommt. Und da gab Konrad Adenauer den Rat: Geh zu den Mönchen nach Maria Laach und lerne dort wieder das Singen. Denn erst wenn du wieder singen kannst, kommst du wieder ins Leben zurück!
Liebe Leser, ich glaube daran, dass manche unserer geistlichen Lieder gerade in Zeiten der Not zu Lebensbegleitern und -helfern werden können.

Die Orgel spielt „Wachet auf...“ Johann Sebastian Bach BW

Die Anregung zu dieser Predigt verdanke ich einer Liedpredigt von Antje Rösener zu „Wachet auf“, ruft uns die Stimme


Pfarrer Stefan Mai

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