Jesus macht die List zu einer Tugend

Predigt zum 29. Sonntag im Jahreskreis (Mt 22,15-21)

Wenn Sie Eigenschaftswörter für Jesus finden sollten, die seine Person und Lebensart treffend charakterisieren, welche Eigenschaftswörter fallen Ihnen spontan ein?

- kurze Stille -

Der gütige, herzliche, heilende, barmherzige, freundliche Jesus? Der alles wissende, alles vorausschauende, überlegene Jesus?
Der lehrende, erzählende, feiernde Jesus?
Der ernste, traurige, leidende Jesus?
Der mutige, herzhafte, anstößige, provozierende Jesus?

Ich bin mir fast sicher, dass das Eigenschaftswort, mit dem das heutige Evangelium Jesus charakterisiert, nicht dabei war. Da ist uns ein listiger Jesus begegnet. Mit einer klugen Gegenfrage und einer vieldeutigen Antwort entgeht er der Falle, in die ihn die Pharisäer locken wollen. Hätte er auf die eindeutige Frage, ob man dem römischen Kaiser Steuern zahlen solle, eine eindeutige und klare Antwort gegeben, wäre er erledigt gewesen. Bei einem eindeutigen „Nein“ hätte man ihn als Staatsaufwiegler beim römischen Statthalter angezeigt, bei einem eindeutigen „Ja“, man soll dem Kaiser die Steuern zahlen, hätte er seine Volksgenossen gegen sich aufgebracht, die gegen die römische Besatzungsmacht eingestellt waren. Stattdessen zieht er sich mit dieser mehrdeutigen Antwort wie eine kluge Schlange aus der prekären Situation: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gott gehört!“

Was ist jetzt mit dem „Euer Ja sei ein Ja und euer Nein ein Nein! Was ist jetzt mit der Devise: „Man kann nicht zwei Herren dienen“? Wird sich Jesus selbst untreu?

Viele Beispiele aus den Evangelien zeigen, dass Jesus ein listiger Bursche war. Er stellt den Tagelöhner als Vorbild hin, der auf dem Acker seines Arbeitgebers einen Schatz entdeckt und - statt den Fund zu melden .- schnell den ganzen Acker kauft. Noch frecher, wenn er den schlitzohrigen Verwalter lobt, der von seinem Herrn entlassen werden soll und sich durch Fälschen der Schuldscheine noch einige Freunde kauft, um nachher nicht auf der Straße zu stehen. Und auch seinen Jüngern empfiehlt er, listig zu sein: „Seid klug wie die Schlangen und arglos wie die Tauben!“

Aber warum ist dann das Bild vom listigen Jesus immer ein unterbelichtetes Jesusbild geblieben? Vielleicht, weil das Wort List bei uns keinen guten Klang hat. Zu leicht hören wir dahinter immer gleich Hinterlist oder Arglist heraus, also eine bewusste Täuschung oder Hinterhältigkeit.
Das germanische Wort List bedeutet ursprünglich Wissen oder Kunstfertigkeit, und im Chinesischen steht das Schriftzeichen für List zugleich für Weisheit.
Das entspricht genau dem Verständnis, das uns im Leben und in den Geschichten Jesu begegnet. Jesus weiß, dass das Leben oft so kompliziert ist, dass es zu einfach wäre, mit Eindeutigkeit die offenen Fragen zu beantworten. Jesus weiß, dass es Situationen gibt, wo ich wirklich nicht weiß, ist ein Ja oder ein Nein angesagt. Jesus weiß, dass sich in komplizierten Lebenslagen ein Durchwursteln nicht mit Unehrlichkeit gleichzusetzen ist, dass eine Frage offen halten nicht gleich mit einem sich vor etwas drücken oder gar mit Lebenslüge gleichzusetzen ist.

Manchmal geht mir gerade in solchen Situationen ein Gedicht von Ernst Jandl durch den Kopf, das dieses Lebensgefühl auf den Punkt bringt:

viele wege kreuzen sich in mir
und ich gehe immer
mehrere straßen zugleich.
ich bin arm.
aber es kommt mir vor:
dann wäre ich reich
wenn unter diesen wegen einer
ein ausweg wäre.

viele wege kreuzen sich in mir
und ich gehe immer
mehrere straßen zugleich.
ich bin arm.
aber es kommt mir vor:
dann wäre ich ärmer
wenn unter diesen wegen einer
ein ausweg wäre.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de