Die zwei Söhne sind in meiner Brust

Predigt zum 26. Sonntag im Jahreskreis (Mt 21,28-32)

Ein alter Indianer saß mit seinem Enkelsohn am Lagerfeuer.
Es war schon dunkel geworden und das Feuer knackte, während die Flammen in den Himmel züngelten.
Der Alte sagte nach einer Weile des Schweigens: “Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist, als ob da zwei Wölfe in meinem Herzen miteinander kämpfen würden. Einer der beiden ist rachsüchtig, aggressiv und grausam. Der andere hingegen ist liebevoll, sanft und mitfühlend.”
“Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?” fragte der Junge. Bedächtig antwortete der Alte: „Der, den ich füttere!“

Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist als ob die beiden Söhne des heutigen Evangeliums in meinem Herzen miteinander kämpfen: Der höfliche Ja-Sager, der freundlich ist und lächelt, der nicht anecken sondern mitschwimmen und in Ruhe gelassen werden will, der aber seinen Worten keine Taten folgen lässt, und der unwillige Nein-Sager, der unbequem auftritt und Zähne zeigt, der sich aber doch noch eines Besseren belehren lässt und sich solidarisch zeigt und zupackt.
“Welcher der beiden wird den Kampf um mein Herz gewinnen?” „Der, den ich füttere!“

Weißt du, wie ich mich manchmal fühle? Es ist als ob die beiden Söhne des heutigen Evangeliums in meinem Herzen miteinander kämpfen: Der höfliche Ja-Sager, dessen religiöse Praxis sich in Äußerlichkeiten und bloßer Pflichterfüllung erschöpft, in dessen Leben aber der Glaube keine große Gestaltungskraft hat, und der Nein-Sager, der zweifelt, ob wir als Kirche den richtigen Weg gehen und der trotzdem sucht und sich den Kopf zermürbt, was Christsein bedeutet und wie es gelebt werden kann.
“Welcher der beiden wird den Kampf um dein Herz gewinnen?” „Der, den ich füttere!“

Liebe Leser,
raffiniert ist die Art Jesu, wie er das Gleichnis von den ungleichen Söhnen erzählt. Denn sie lässt uns vorsichtig werden gegenüber dem scheinbaren Musterknaben; denn unsere spontane Sympathie gehört dem unbequemen Nein-Sager. Ist diese spontane Sympathie auch stark genug, um den ersten Sohn in mir stärker auf die Schliche zu kommen und dem zweiten Sohn in mir mehr Platzrecht zu geben?


Pfarrer Stefan Mai

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