Das hätte ich von Jesus nicht gedacht

Predigt zum 20. Sonntag im Jahreskreis (Mt 15,21-28)

„Du dummer Hund!“ „Mensch, du bist doch ein blöder Hund!“ Wenn Ihnen ein solcher Satz an den Kopf geworfen wird, da fühlen Sie sich kaum geschmeichelt. Im Gegenteil, Sie finden es als starken Tobak, fühlen sich verletzt oder mindestens als verbalen Ausrutscher.
Sie halten es nicht für möglich, aber genau diesen verbalen Ausrutscher leistet sich Jesus im heutigen Evangelium. Da kommt eine kanaanäische Frau mit ihrem Kreuz zu Jesus, voller Sorge um ihre psychisch kranke Tochter. Sie bittet um Aufmerksamkeit und Zuwendung. Doch Jesus bleibt stur. Es heißt: „Jesus gab ihr keine Antwort!“ Die Jünger versuchen zu vermitteln. Jesus ist nicht zu bewegen. Und dann der Höhepunkt. Kaltschnäuzig fertigt er sie mit einem verächtlichen Schimpfwort ab. Als die Frau nicht aufhört, ihn zu bitten, bekommt sie zu hören: „Es ist nicht recht, das Brot den Kindern wegzunehmen und den Hunden vorzuwerfen.“ Um diesen Satz in seiner Härte zu verstehen, muss man wissen: Hund war damals das gängige Schimpfwort für einen Heiden oder Gottlosen.

Erschreckend!
Ein abweisender Jesus, der auf die Bitte einer verzweifelten Frau keinerlei Reaktion zeigt.
Ein sturer Jesus, der eine hilfesuchende Frau gleich zwei Mal mit dem Hinweis abspeist: Für dich nicht zuständig!
Ein beleidigender Jesus, der eine geduldig bittende Frau mit einem Kraftausdruck abservieren will.
Ein unglaubwürdiger Jesus, der Feindesliebe predigt und einer harmlosen Fremden aus dem Weg geht.

Erschreckend?
Nein! Ich finde es befreiend. Ich finde es befreiend, dass uns heute im Evangelium ein Jesus vor Augen steht, der kein perfekter Herr und Meister ist, sondern sich schwer in seiner Wortwahl vergreift.
Ich finde es befreiend, dass am Ende Jesus selbst einsehen muss: Von dieser hartnäckigen Mutter kann ich nur lernen.
Ich finde es befreiend, dass Jesus dazulernen muss und seine Meinung korrigiert, weil er merkt: Ich habe die Würde eines Menschen verletzt.

Ich glaube, zu sehr wurde uns ein überhöhtes Jesusbild nahegebracht: ein Jesus, der immer gütig und hilfsbereit ist. Ein Jesus, der nie einen Fehler macht. Ein Jesus, der alle und alles versteht. Ein Jesus, der auf jeden und jede tief fühlend eingeht. Vielleicht verstehen wir das Wort des amerikanischen Bischofs John Spong besser, der gesagt hat: „Das eingefrorene Bild Christi erweist sich als eines der größten Götzenbilder der Geschichte.“ Das heißt: Ein fertiger Jesus wäre etwas Unheimliches und Gefährliches zugleich.

Der lernfähige Jesus, der an seinem Auftrag reift, ist eine Ermutigung für alle, die sich nicht als perfekt vorkommen, aber dazulernen wollen:
Für alle, die nicht stehen bleiben beim Glauben ihrer Kinderzeit, sondern weiterfragen und weitersuchen.
Für alle, die fremde Meinungen und unangenehme Kritik nicht sofort verurteilen, sondern als Herausforderung ansehen, den eigenen Standpunkt zu überprüfen.

Dieser lernfähige Jesus ist auch eine Ermutigung für eine Kirchenleitung, die dazulernt,
die nicht nur Lektionen verteilt, sondern sich auch etwas sagen lässt;
die den Mut aufbringt, unfertig zu sein - und nicht so tut, als hätte sie die Wahrheit gepachtet;
die ihre Angst zugibt und wieder neu Vertrauen lernt, anstatt autoritär aufzutreten.

Liebe Leser, das heutige Evangelium malt uns ein Bild von Jesus, das im ersten Moment erschreckt und verunsichert, weil es unser „eingefrorenes Bild“ von ihm zerstört. Wer sich aber darauf einlässt, spürt: Es tut gut und macht Mut zu einer ehrlicheren und sympathischeren Kirche.


Pfarrer Stefan Mai

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