Die Übertragung ins heute ist gefragt!

Predigt zum 16. Sonntag im Jahreskreis (Mt 13,24-30)

Jesus wollte schon zu Lebzeiten mit seinen Gleichnissen die Phantasie anregen und Menschen dazu bewegen, sie in ihr Leben hineinzustellen und sie auf ihr Leben zu übertragen. Wenn er uns heute das Gleichnis vom Weizen und dem Unkraut erzählen würde, vielleicht könnte es so lauten:

Beispiel 1

Er hat vieles mitbekommen und er hat etwas daraus gemacht. Und jetzt steht er da, angefüllt mit Wissen, Werten, Idealen und Ideen, voller Tatendrang in den Startlöchern zum Berufsleben. Er ist angesehen, bekommt Vertrauensvorschuss und spürt, „ich bin gut“ – „ich bringe frischen Wind“ und das wird gebraucht.
Aber das stößt nicht einhellig auf die objektive Meinung: „Mit dem bekommt unsere Sache eine positive Wendung, der kann uns weiterbringen!“
Nein, plötzlich stehen da viele persönliche Vorbehalte einer fruchtbaren Zusammenarbeit im Weg: Da hat ein verdienter „alter Hase“ Angst, in den Schatten eines Jüngeren zu geraten. Da hat sich einer mühsam hochgearbeitet und nun scheint er mit Leichtigkeit überflügelt zu werden, das kann nicht gerecht sein.
Da trägt einer Verantwortung und meint sich auf der sicheren Seite, wenn alles so wie bisher weitergeht. Nur sich nicht wegen eines Neulings auf unsicheres Neuland einlassen.
Da sorgt sich einer, ob denn bei Erfolg genug auf ihn zurückfällt.
Bei so viel Gegenwind, geht dem jungen Mann viel Energie, die für die Aufgabe zum Einsatz kommen sollte, verloren. Wenn dann dazukommt, dass keiner da ist, der einem den Rücken stärkt, weil Ergebnisse ihre Zeit brauchen, kommt leicht Frustration, wenn nicht Resignation auf. Er möchte alles hinwerfen und aufgeben. Der Anfangselan droht zu ersticken.
Aber was wären sie wert, seine Werte, Ideale, sein Wissen und seine Ideen, seine positive Lebenseinstellung, das, was ihn ausmacht, wenn sie sich von Querschlägen überwuchern und ersticken ließen?
Nein, er muss weitermachen, auch wenn er nicht weiß, ob er Erfolg hat!

Beispiel 2

Mit Güte wollte sie ihre Kinder erziehen. Sie war überzeugt: Das Klima der Güte ermöglicht ihnen eine gute Entwicklung, weckt Vertrauen, lässt sie zu offenen Menschen werden. Sie war überzeugt: Wer selbst Güte empfängt, der entwickelt nicht nur sich selbst gut, sondern gibt diese Güte auch einmal an andere Menschen weiter.
Aber jetzt merkt sie, dass ihr Ältester das für selbstverständlich nimmt, ja dass er ihr Wohlwollen sogar als Klammern auslegt und ihr Vorwürfe macht. Und von wegen mit anderen Menschen verständnisvoll umgehen. Sie merkt: Bei ihm gilt nur das Motto: Zuerst ich, dann lange nichts.
Und so steigen Zweifel in ihr auf. Hätte ich vielleicht doch auf meinen Mann hören sollen, der immer wieder sagte: Mit dem Burschen musst du härter umgehen, den musst du besser an die Kandare nehmen, strenger und härter erziehen, ihn bestrafen - und nicht nur alles im Guten versuchen. Aber - denkt sie zugleich - man muss sich doch so verhalten, wie es einem wichtig und richtig erscheint. Man kann doch nur etwas rüberbringen, wenn man authentisch mit sich bleibt. Ich und die Strenge spielen? Und sie hat insgeheim die Hoffnung, dass die Güte, die sie investiert hat, nicht umsonst war, dass sie sich doch stärker erweist als alle anderen Einflüsse, die ihren Sohn zur Zeit faszinieren und bestimmen. Und das sagt sie sich ganz bewusst: Am Ende habe nicht ich über das Leben meines Sohnes zu urteilen. Und wenn ich wirklich einen Fehler gemacht haben sollte, dann habe ich ihn doch lieber durch allzu große Güte gemacht als durch übertriebene Strenge.

Liebe Leser, das waren zwei Übertragungsversuche ins Heute. Fällt Ihnen ein dritter ein?


Pfarrer Stefan Mai

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