Sich wieder neu finden

Predigt bei der Gößweinsteinwallfahrt von Oberschwarzach zum 7. Sonntag der Osterzeit (Apg 1,12-14)

Wir wissen, wie die Freundschaftsgeschichte von Jesus und seinen Jüngern zu Ende geht. Als es ernst wird, zieht sich Jesus mit den Zwölfen in Jerusalem in ein Obergemach zurück und feiert das Paschamahl. Ausgerechnet bei diesem Mahl, in dem Jesus den Seinen klar macht, dass es sein letztes sein wird, geraten diese Knallköpfe in Streit darüber, wer unter ihnen der Größte ist, anstatt Solidaridät zu zeigen. Nach dem Mahl gehen sie hinaus, den Berg hinunter über den Kidronbach und zum Ölberg hinauf. Dort wird Jesus geschnappt. Seine Jünger laufen auseinander. Und der Evangelist Lukas erzählt, wie nach dem Kreuzestod unter ihnen die Devise lautet: „Nichts wie weg aus Jerusalem. Diesen Ort der Vernichtung aller Hoffnungen und Lebensträume aus dem Gedächtnis streichen. Nur vergessen, vergessen, vergessen...“

Da fällt mir an der heutigen Lesung etwas auf. Da heißt es: „Als Jesus in den Himmel aufgenommen war, kehrten die Apostel vom Ölberg, der nur einen Sabbatweg von Jerusalem entfernt ist, nach Jerusalem zurück. Als sie in die Stadt kamen, gingen sie in das Obergemach hinauf, wo sie nun ständig blieben ...“ Und ausdrücklich werden die Namen der elf aufgezählt und festgehalten: Die Elf finden sich wieder zusammen und dazu noch die Frauen und Maria und seine Brüder. Gemäß einer Anweisung Jesu vor der Himmelfahrt kehren die elf zurück: Vom Ölberg hinab über den Kidron, hinauf in das Obergemach.

Ist es Ihnen aufgefallen? Das ist genau die Gegenrichtung zum Weg nach dem Abendmahl. Sie gehen vom Ölberg zurück zum Obergemach in Jerusalem. Die Jünger treffen sich wieder an dem Ort, wo sie zum letzten Mal mit Jesus zusammen waren. Und dieses Mal geraten sie nicht miteinander in Konkurrenzdenken und Streit und kippeln darüber, wer der Beste und Größte ist. Nein, es heißt ausdrücklich: „Sie alle verharrten dort einmütig im Gebet.“

Und Lukas erzählt: Zu den Apostel, die sich wieder mit ihrer Vergangenheit konfrontieren, kommen andere dazu: die Frauen, Maria, seine Brüder. Die Jesus-Bewegung stirbt nicht, sondern erlebt selbst eine neue Auferstehung. Im Obergemach wird kein Kapitel zugeschlagen. Von hier aus wird ein neues Kapitel aufgeschlagen - bald bricht sich das junge Christentum Bahn über die ganze Welt.

Für mich verbirgt sich hinter dieser Schilderung eine bewusste Dramaturgie des Evangelisten Lukas. Ich denke, er will dadurch uns eines deutlich machen:
Wenn du in deinem Leben eine große Enttäuschung erlebt hast, wenn Lebensträume und Hoffnungen zerplatzt sind wie Seifenblasen, dann wirst du im Leben nicht damit fertig, wenn du ausreißt, wenn du alles einfach verdrängen willst. Wenn du sie aufarbeiten willst, dann musst du dich noch einmal mit deinen Enttäuschungen ganz bewusst konfrontieren und dich deiner selbst vergewissern. Es braucht eine Zeit des Stillstands, des Innehaltens und Abwartens. Es nützt gar nichts, wenn du dich mit gezielter Abwechslung ablenken willst oder dich durch einen ungezielten Aktionismus betäuben möchtest. Du musst diese Brachzeit durchhalten, bis du wieder den Ansatz neuer Perspektiven sehen kannst, du musst es aushalten, nichts zu tun, bis du wieder neue Klarheit hast. Es braucht einfach Zeit, sich wieder neu zu finden.

Liebe Leser,
Wir waren drei Tage oder den einen Tag heute von daheim weg auf dem Weg nach Gößweinstein. Vielleicht hat so manche/r etwas mit sich getragen, wovon er am liebsten davon laufen möchte. Vielleicht hat so mancher um die Lösung eines belastenden Problems inständig gebetet. Die Botschaft des heutigen Sonntags lautet: Geh getrost nach Hause, es braucht Zeit, Geduld und auch die Solidarität anderer, bis in dir eine neue Einstellung dazu wächst oder sich eine neue Perspektive eröffnet.


Pfarrer Stefan Mai

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