Ich fang’ dich doch auf

Predigt zum Himmelfahrtsfest 2011

In den alten Erzählungen der Chassidim finde ich eine Geschichte, die schwer zu verdauen ist:

Ein Vater stellt seinen Sohn auf eine hohe Mauer. Dann streckt er dem Kind seine Hände entgegen und sagt: „Spring, ich fang’ dich auf!“ Das Kind zögert, es hat Angst. Der Vater ermutigt es: „Ich fang’ dich auf!“ Schließlich springt das Kind. Der Vater zieht seine Hände weg. Das Kind fällt zu Boden. Dem weinenden Kind erklärt der Vater: „So ist unsere Welt! Niemand darfst du vertrauen, nicht einmal deinem Vater!“

Eine schreckliche Geschichte. Sie ruft in uns Protest und Abscheu hervor: Wie kann ein Vater so etwas tun, ein gutgläubiges Kind so fallen lassen? Wir wissen doch, wie wichtig für Menschen Erfahrungen sind, dass Vertrauen trägt. Wie wichtig das Vertrauen auf die Mutter ist, deren Arme ausgebreitet sind und tragen, wie wichtig doch die Hand des Vaters ist, die festhält. Und doch passiert diese Geschichte im Leben so vieler Menschen. Vertrauen ist immer ein Wagnis. Das Kapital an Vertrauen ist aber auch schnell verspielt. Wie oft sagen Menschen: „Ich kann niemandem mehr vertrauen. Ich bin im Leben so oft enttäuscht worden!“ Und wie oft raten Menschen anderen: „Vertrau ja nicht zu schnell!“, oder behaupten: Heutzutage kannst du niemandem mehr vertrauen!“ Das Misstrauen wächst schnell und kann wie eine Mauer zwischen Menschen stehen und zu einem Käfig werden, der isoliert und einsam macht und am Ende ein Miteinander unter

Der Evangelist Matthäus lässt sein Evangelium mit dem Wort Jesu enden: „Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt!“ Als letztes Wort steht eine feste Zusage: Auf mich könnt ihr euch verlassen. Ich lasse euch nicht im Stich! Und ganz bewusst bekommt am Anfang des Matthäusevangeliums Jesus schon bei der Verkündigungsgeschichte den Namen „Immanuel“, d.h. Gott ist mit uns. Wie eine Klammer umschließt dieser zugesicherte Beistand Gottes das Evangelium.

Liebe Leser, ich weiß, wie schwer es ist, wenn Menschen erlebt haben, dass Vertrauen missbraucht worden ist, wenn sie von Menschen, denen sie blind vertraut haben, schwer enttäuscht wurden, dann daran zu glauben: Gott ist mit uns - Siehe ich bin alle Tage bei euch bis zum Ende der Welt. Ich weiß, dass enttäuschtes Vertrauen in Menschen, auch das Vertrauen in Gott schwer zum Wanken bringen kann.
Aber ich weiß auch, wer wie Jesus von dem Glauben „Gott ist mit uns“ getragen ist, durch dick und dünn hindurch, der kann auch anderen Menschen leichter die Zusage geben: „Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt.“


Pfarrer Stefan Mai

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