Wieviel Erde braucht der Mensch?

Predigt zum Siebener-Tag in Gerolzhofen

Einleitung

Ich habe nicht nur wie Sie bäuerliches Blut in den Adern.
Mir geht es auch in meinem Beruf ähnlich wie den Bauern. Die „Betriebsgrößen“ der Pfarreiengemeinschaften wachsen ebenso rasant wie die Betriebsgrößen der Haupterwerbsbetriebe in der Landwirtschaft. Die zu bewältigenden Katholikenzahlen wachsen ebenso wie die Stückzahlen der Milchvieh-, Bullen-, Schweinemast- und Ferkelerzeugerbetriebe. Diesen wachsenden Zahlen stehen aber immer weniger Pfarrer und Landwirte gegenüber. Die Interessenten in den Priesterseminaren und Landwirtschaftsschulen nehmen schwer ab. So manche Landwirtschaftsschule muss wie so manches Priesterseminar geschlossen werden. Und beide Branchen beschäftigt die Frage nach der Zukunftsfähigkeit. Und die Bürokratie frisst beim Landwirt wie beim Pfarrer immer mehr Zeit auf.

Ich denke, ein Siebener-Tag ist nicht der Folklore wegen dar. Er ist dazu da, um nachzudenken, uns auch Zeit für Fragen an uns zu nehmen. Und dazu wollen wir uns zu Beginn dieses Tages unter das Wort Gottes stellen.

Predigt

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoj schrieb im Jahre 1886 die Erzählung „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ Sie erzählt von einem habsüchtigen Bauern.
„Wir haben zu wenig Land“, dieser Gedanke ging dem Bauer Pachom in letzter Zeit öfter durch den Kopf. Wir haben zu wenig Land. Wenn ich mehr Land hätte, dann fürchtete ich nichts und niemand mehr.“
Da verkaufte die Gutsherrin in der Nachbarschaft ihr Land an die Bauern. Pachom sah voller Neid, dass sein Nachbar 20 Hektar Land gekauft hatte. „Alle Nachbarn kaufen Land“, sagte er zu seiner Frau. „Auch wir müssen Land kaufen, sonst langt es nicht mehr für uns.“ Sie borgten sich Geld, der Sohn musste als Knecht zu einem anderen Bauer gehen. So konnte Pachom ein zehn Hektar großes Stück kaufen. Er war voll Freude. Er hatte Glück mit der Ernte und machte einen schönen Gewinn. Pachom konnte seine Schulden zurückzahlen und war glücklich.

Eines Tages bat ein durchreisender Kaufmann bei Pachom um ein Nachtlager. Der Kaufmann erzählte: „Ich komme aus dem fernen Baschkirenland. Dort haben die Menschen soviel Land, dass man ein ganzes Jahr braucht, um es zu umschreiten. Ich habe dort erst 5000 Hektar für 1000 Rubel gekauft.“ Das ließ Pachom nicht mehr in Ruhe. Er fragte ihn nach den Weg zu den Baschkiren. Er machte sich auf, um dorthin zu reisen. Zusammen mit seinem Knecht und vielen Geschenken machte er sich auf den Weg. Viele Tage musste er reisen, bis er im Zeltlager der Baschkiren ankam. Diese empfingen ihn freundlich, führten Pachom in ein Zelt und gaben ihm reichlich Hammelfleisch zu essen und Tee zu trinken. Die Baschkiren treiben keinen Ackerbau. In der Steppe weiden sie ihre Vieh- und Pferdeherden. Pachom verteilte seine Geschenke. „Du hast uns reichlich beschenkt“, sagten sie. „So sage uns nun, was du gerne von uns hättest.“
Da sagte Pachom: „Ich möchte gerne Land von euch kaufen. Bei uns zu Hause ist es zu eng.“ Der Älteste des Baschkirenstammes sagte zu Pachom: „Wenn du Land haben willst, nimm dir soviel du magst. Wir haben genug davon.“ Pachom fragte nach dem Preis. „Wir haben nur einen Preis“, sagte der Älteste, „tausend Rubel für den Tag.“ Pachom verstand nicht, was das bedeuten solle. So erklärte ihm der Älteste: „Alles Land, das du an einem Tag umwandern kannst, das gehört dir, und kostet tausend Rubel. Am Abend aber musst du wieder an der Stelle zurück sein, von der du ausgegangen bist. Bist du nicht zurück, so bekommst du das Land nicht, und wir behalten das Geld trotzdem.“ Pachom war mit dem Handel einverstanden. Bei Sonnenaufgang sollte es losgehen.

In der Nacht hatte er einen seltsamen Traum. Er sah den Ältesten der Baschkiren. Der hielt sich den Bauch vor Lachen. Vor ihm lag auf dem Boden ein Toter. Und Pachom erschrak. Er selbst war der Tote. Da wachte er auf, weckte seinen Knecht. Komm, wir gehen, bald kommt die Sonne, es wird Zeit, dass ich mein Land umschreite.

Auf einem Hügel warteten die Baschkiren. Der Älteste zeigte auf die riesige Ebene und sagte: „Wähle dir nun dein Land.“ Pachoms Augen brannten vor Verlangen. Der Älteste legte seine Fuchsfellmütze auf den Boden. „Das ist unser Merkzeichen. Von hier aus gehst du und hierher kommst du zurück. Wenn du nicht zurück bist beim Untergang der Sonne, dann hast du den Handel verloren. Bist du aber zurück, dann soll alles Land, das du umschritten hast, dir gehören.“ Pachom legte sein Geld auf die Mütze - und ging los. Mit der Hacke auf der Schulter ging er gegen Osten in die Steppe hinein. Er lief schnell und immer wieder brachte er ein Merkzeichen an.

Als ein Viertel des Tages um war, sagte sich Pachom: „Es ist noch zu früh, um einzubiegen. Der Boden ist hier gar gut. Je länger ich gehe, umso besser wird das Land.“ Und seine Gier trieb ihn immer weiter. Er war ganz in Schweiß gebadet. Er blickte zurück zu Hügel. Der war klein wie ein Ameisenhaufen.
Jetzt musste er abbiegen, um die zweite Seite abzuschreiten. Er wurde müde und die Sonne brannte heiß. Pachom gönnte sich nur eine kurze Mittagsrast. Er aß und trank ein wenig. „Ruhen darf ich nicht, sagte er sich, „sonst schlafe ich ein.“ Und setzte seinen Weg fort.

Er ging auch auf dieser Seite ein langes Stück. Jedesmal, wenn er abbiegen wollte, lockte ihn noch schöne Flur. Endlich bog er in die dritte Seite ein. Er sah, dass die beiden Seiten viel zu lang waren. Da verdoppelte er seinen Schritt. Aber die dritte Seite musste kürzer werden. Die Sonne neigte sich zur Vesperzeit. Furcht packte Pachom. Wenn er nun den Ausgangspunkt nicht zur rechten Zeit erreichen würde? So bog er in die vierte Seite ein. Noch hatte er etwa 15 Meilen bis zum Hügel zu gehen. Da fing er an zu laufen, geradewegs auf den Hügel zu.
Pachom rannte und rannte. Es war noch so weit zum Ziel. Seine Füße schmerzten. Sie waren voller Blasen und ganz zerschunden. Er keuchte, sein Herz hämmerte, sein Mund war trocken. Die Sonne stand tief am Horizont. Und Pachom lief noch schneller. Endlich kam er zum Hügel. Die Sonne war am Versinken. „O weh“, stöhnte er, „ich erreiche mein Ziel nicht mehr. Alles ist dahin, und ich habe mich zugrunde gerichtet.“
Aber da hörte er die Baschkiren rufen. Sie winkten und feuerten ihn an. Von oben war die Sonne noch zu sehen. Mit letzter Kraft stürmte Pachom den Hügel hinauf. Da saß der Älteste und hielt sich den Bauch vor Lachen. Pachom stöhnte auf. Seine Beine knickten ein, und er fiel hin. Mit seinen Händen erreichte er noch die Fuchsfellmütze.
Der Älteste rief: „Gut gemacht. Du hast jetzt viel Land.“ Aber Pachom hörte nicht mehr. Er war tot. Die Baschkiren waren sehr betroffen und bedauerten seinen Tod. Der Knecht nahm die Hacke und grub seinem Meister ein Grab. Genau so lang und so breit wie sein Körper die Erde bedeckte. Dann scharrte er ihn ein.

- Orgelmusik -

Liebe Siebener und Landwirte, verehrte Vertreterinnen und Vertreter des öffentlichen Lebens und der Politik,

als ich diese Geschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ zum ersten Mal hörte, ist sie mir in die Knochen gefahren, weil diese Sehnsucht nach mehr Land in fast jedem Bauer steckt. Wer träumt nicht davon, ausreichend Fläche zu haben, um sich seine Existenz für die Zukunft abzusichern. Wen treibt heutzutage nicht die Frage um: Wie kann ich meine Betriebsfläche vergrößern, wo kann ich noch zu annehmbaren Preisen zu Pachtflächen kommen?
Diese alte Geschichte vom Bauern Pachom fragt mich: Gibt es überhaupt noch eine Grenze an bewältigbarer Betriebsgröße, gibt es überhaupt noch eine Grenze bei den Hektarerträgen, bei der Fleisch- und Milchleistung von Tieren oder muss sie immer noch in die Höhe getrieben werden? Und wer spürt nicht diese bedrängende Frage: Macht dieser äußere Zwang oder innere Drang nach immer mehr an Fläche und Leistung auf Dauer nicht nur die Solidarität der Bauern untereinander, sondern auch mich als Menschen kaputt, weil es eine Grenze der Arbeits-, der Geistes- und Nervenkraft gibt?
Es ist doch nicht mehr zum Lachen, wenn ein Bauer, der „nur“ 70 ha Betriebsfläche hat, von einem Kollegen hört: „Ach, dei paar Ackerli, die mach ich doch noch schnall a en Sundi früh vor der Kerch mit!“
Und es kann doch nicht die Erfüllung eines Lebens sein, wenn dann als größte Lebensanerkennung und Wertschätzung einmal auf dem Totenzettel steht: „Nur Arbeit war sein Leben!“ Ist das der Sinn eines Lebens? Vielleicht sollten wir da schon vorher manchmal den ironischen Spruch beherzigen:
„Wenn Du früh schuftest wie ein Pferd,
Mittags arbeitest wie ein Ochse,
Und abends müde bist wie ein Hund, solltest du einmal zum Tierarzt gehen. Es könnte sein, dass du ein Kamel bist!“

Die Geschichte aus dem Paradies möchte uns daran erinnern: Du bist als Mensch Geschöpf und nicht der Schöpfer. Es braucht gewisse Grenzen, an die man nicht rührt und es ist wichtig, in einer maßlosen Zeit ein neues Gefühl für Grenzen zu entwickeln, wenn du dir auf Dauer nicht selbst schaden willst.
Das Jesus-Gleichnis vom Kornbauer und die Geschichte „Wieviel Erde braucht der Mensch?“ von Leo Tolstoj mahnen uns, uns nicht nur von einem blinden „immer mehr, immer mehr“ verführen zu lassen. Sie geben den Ratschlag: Halt manchmal inne und frag dich:
Sind Fläche, Erfolg, Arbeit nicht Werten wie Beziehung, Solidarität und Zufriedenheit unterzuordnen?
Was zählt wirklich im Leben? Was brauche ich wirklich, um gut, sinnvoll und menschlich zu leben?
Was musst du tun?
Was lässt du bleiben?
Was ist wirklich wichtig?
Worauf wartest du noch?
Wonach sehnst du dich?

Und sie raten, wie es die großen Meister der Spiritualität immer getan haben: Denke bei wichtigen Entscheidungen im Leben an deine letzte Stunde. Wie möchtest du einmal gelebt haben, wenn du am Ende zum Sterben daliegst? Wenn du nichts mehr ändern kannst. Wenn du keine Kraft mehr hast: Wie möchtest du dann auf dein Leben zurückschauen?

„Wieviel Erde braucht der Mensch?“ - fragt Leo Tolstoj in seiner Geschichte. Die Frage, wieviel Hektar ein Bauer heutzutage braucht, um gut zu leben, kann ich Ihnen nicht beantworten.
Wie Tolstoj weiß ich nur eines: Am Ende genügen für einen jeden von uns 1x2 Meter.


Pfarrer Stefan Mai

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