Ich bin dein Brevier

Predigt zum 5. Sonntag in der Osterzeit (Joh 14,1-6)

In der Anfangszeit, als zu Franz von Assisi immer mehr Menschen kamen, um sich ihm anzuschließen, hatten die Brüder noch keine Gebetbücher, geschweige Breviere. Ihr Gebet bestand vorwiegend aus einfachen Wiederholungsgebeten, dem Vaterunser und dem Kreuzgebet „Wir beten dich an, hier und in allen Kirchen, weil du durch dein heiliges Kreuz die Welt erlöst hast.“
Einem Bruder ist das nicht genug. Er möchte ein Psalterium haben. Franziskus reagiert darauf empört: „Wenn du einmal ein Psalterium hast, willst du auch ein Brevier haben. Und wenn du ein Brevier hast, willst du bald auf dem Lehrstuhl sitzen, dann wirst du wie ein großer Prälat dem Bruder sagen: Bring mir das Brevier.“ Und er raufte sich die Haare und schrie immer wieder: „Ich bin dein Brevier, ich bin dein Brevier ...“
Wir wissen, das Brevier ist das Gebetbuch der katholischen Kleriker mit den Stundengebeten, hauptsächlich zusammengestellt aus den Psalmen. Brevier heißt eigentlich vom Wort her eine kurze Sammlung wichtiger Texte. Wenn Franziskus so harsch reagiert: „Ich bin dein Brevier, ich bin dein Brevier“, dann gibt er dem Bruder zu verstehen, dass er selbst eine kurze Zusammenfassung des Evangeliums ist. Dass die Brüder an seinem Leben und seiner Person sehen sollen, was sie wissen und tun sollen. Franziskus fordert den Bruder auf, die Orientierung für sein geistliches Leben nicht am Buchstaben eines Textes, sondern in der Lebendigkeit des Lebens, in Franziskus selbst, zu suchen. Franziskus ist selbstbewusst: Ich bin ein Brevier Jesu Christi, die Zusammenfassung dessen, was ihm wichtig war.

Diese Geschichte von Franziskus hilft mir, das große Wort Jesu im heutigen Evangelium besser zu verstehen: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. In der Auseinandersetzung mit den verschiedenen philosophischen Strömungen und orientalischen Kulten will der Evangelist Johannes den Leuten seiner Gemeinde eines klar machen: Wenn du den Weg zu Gott finden willst, dann brauchst du keine gescheiten Worte in der Gnosis oder in der Philosophie zu suchen, dann brauchst du nur auf diesen Jesus schauen, wie er gelebt und was er vorgelebt hat. Du wirst spüren, dass dir dies zum Leben hilft.
Ich bin der Weg: Schau auf die Spuren, die er hinterlassen hat. Versuche einfach das zu leben, was du an Jesus als richtig und wichtig erkannt hast.
Ich bin die Wahrheit: Schau auf Jesus. Der steht hinter seinen Worten. Der ist stimmig. Da wird dir nichts vorgegaukelt und vorgemacht. Da kannst du dich darauf verlassen.
Ich bin das Leben: Schau auf den Lebensstil Jesu. Lass dich von ihm anstecken und du wirst spüren: So lässt es sich menschlich leben.

Liebe Leser,
Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben - sagt Jesus.
Ich bin dein Brevier, ich bin dein Brevier - ruft Franziskus.
Das wissen wir doch alle aus unserer eigenen Erfahrung: Ein vorgelebtes Beispiel überzeugt mehr als dürre Lehrsätze. Der römische Philosoph Seneca, ein Zeitgenosse Jesu, bringt es auf den Punkt: „Die Menschen glauben den Augen mehr als den Ohren. Lehren sind ein langweiliger Wg. Vorbilder ein kurzer, der schnell zum Ziel führt.“


Pfarrer Stefan Mai

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