Ein „Mischmasch“ von Gefühlen

Predigt zum 5. Fastensonntag (Joh 11,1-45)

Der bekannte Theologe Romano Guardini hielt in einem großen überfüllten Hörsaal einen Vortrag. Auf einmal sprang die Tür auf. Ein Mann kam herein und sprang zu ihm aufs Podium. Er sagte ihm ein paar Worte ins Ohr. Daraufhin erklärte Guardini seinen Zuhörern: „Meine Damen und Herren! Eben erhalte ich die Nachricht, dass ein Freund von mir in Not ist. Freundschaft bedeutet mir mehr als ein Vortrag. Seien Sie mir bitte nicht böse, wenn ich nun meinen Vortrag beende, um meinen Freund zu besuchen.“
Damit verließ er den Saal. Niemand war böse. Und jeder verstand Romano Guardini.

Da verblüfft es schon einen, wenn ich im heutigen Evangelium höre:
Da lassen Maria und Marta Jesus ausrichten: „Herr, dein Freund ist krank!“ Aber da heißt es: „Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt.“ Bis dann Jesus von Galiläa hinauf in die Jerusalemer Gegend nach Betanien wandert, ist Lazarus bereits gestorben.
Seltsame Gespräche auf dem Weg: „Lazarus ist gestorben, doch ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt.“

Kein Wunder die Reaktion von Marta: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben.“ Kein Wunder, dass sich die Leute fragen: „Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb?“ Kein Wunder, dass ihm auch Maria mit den Worten entgegenkommt: „Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben!“

Zudem verhält sich Jesus irgendwo komisch: Auf der einen Seite wirkt er eiskalt, auf der anderen Seite tief ergriffen. Auf der einen Seite behauptet er felsenfest: Dein Bruder wird auferstehen. Auf der anderen Seite weint er Tränen um seinen Freund Lazarus.
Ein seltsames Gemisch von Gefühlen auch bei Maria und Marta: Auf der einen Seite eine innerliches Aufgebrachtsein: „Wärst du doch da gewesen, dann wäre er nicht gestorben!“ Auf der anderen Seite der Glaube: „Ich weiß, dass er auferstehen wird!“
Wie soll man das alles verstehen?

Ich verstehe diese Gefühle, die miteinader streiten, besser, wenn ich auf mich selbst schaue. Wenn wir selbst mit einem Todesfall konfrontiert sind, dann machen wir doch selbst dieses Mischmasch von Gefühlen durch. Da steht die Frage da: Wenn Gott da gewesen wäre, wäre er vielleicht nicht gestorben. Auf der anderen Seite singen wir die Lieder: „Ich bin die Auferstehung und das Leben“ und klammern uns an den Glauben: Auch wenn ein Mensch stirbt, lebt er bei Gott. Und wir werden ständig zwischen diesen Polen hin- und hergeworfen. Zwischen dem Schmerz, der weinen lässt, und der Hoffnung, dass der Verstorbene bei Gott lebt. Auf der einen Seite diese Traurigkeit um den Verlust, der viele Warum-Fragen aufwirft, auf der anderen Seite das Gefühl: Gott sei Dank noch glauben können, dass mit dem Tod nicht alles aus ist.

Liebe Leser! Mir sagt die Geschichte von Lazarus: Der zweifache Vorwurf: Herr, wärst du doch hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben, darf sein, ist allzu menschlich; die Tränen, die Trauer dürfen sein. Und doch spüren wir in allem Leid, in allem Nichtverstehenkönnen des Todes die Hoffnung, die in der Botschaft des Namens von Lazarus steckt. Denn Lazarus - im Hebräischen Elázar - heißt übersetzt: „Dem Gott hilft“. Was in der Trauer hilft ist der Glaube: Dem Toten und dem Trauernden hilft Gott!


Pfarrer Stefan Mai

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