Die Geschwisterfolge - ein Schicksal?

Predigt zum 4. Fastensonntag (1 Sam 16,1-13)

Psychologen haben untersucht, ob die Stellung innerhalb der Geschwisterreihe die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder beeinflusst. Und tatsächlich: Der Platz in der Folge der Geschwister hat lebenslang Bedeutung. Wer ältere Geschwister hat, bleibt oft die „Kleine“, auch wenn sie auf die 70 zugeht. Wenn ich nach Hause komme, heißt es bis heute: „Da Groß kümmt.“ Ob ein Kind Erstgeborenes, Nesthäkchen, Sandwich-Kind oder später Nachzügler ist, kann durchaus prägend für sein ganze Leben werden.

Der Grund hierfür ist, dass Eltern Ihre Kinder - meist ganz unbewusst - unterschiedlich behandeln, je nachdem welchen Rang sie in der Geschwisterreihenfolge einnehmen. Daraus ergibt sich für jedes Kind ein ganz anderes Selbstverständnis und andere Strategien, sich durchzusetzen und eine eigene Identität aufzubauen.

Ein erstgeborenes Kind bekommt am Anfang seines Lebens extrem viel Liebe und Zuwendung. Schließlich ist auch für die Eltern jeder Entwicklungsschritt der Erste und wird somit mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. Diese übergroße Zuwendung, besonders wenn Sie mit Ängsten und zu hohen Erwartungen begleitet wird, kann ein Kind aber auch ganz schön belasten. Besonders prägend für Erstgeborene wird aber der Schock der "Entthronung" betrachtet, wenn ein Geschwisterkind kommt. Und ebenso die Fürsorge, die sie dann oft für ihre Geschwister entwickeln. Und oft sind die Großen die Zuverlässigen, die Ehrgeiz haben. Sehr oft sind Menschen, die in sozialen Berufen tätig sind, daheim die Ältesten.


Das mittlere Kind - auch Sandwich-Kind genannt - wird durch die Erfahrung geprägt, sich gegen das ältere und das jüngere Geschwisterkind durchzusetzen, um sich zu behaupten. Häufig entwickeln Sandwich-Kinder gute diplomatische Fähigkeiten. Manchmal wird aus einem mittleren Kind aber auch ein Sorgenkind, nämlich dann, wenn die Aufmerksamkeit der Eltern zu sehr beim Erstgeborenen oder beim Nesthäkchen liegt.

Das Nesthäkchen profitiert von den Erfahrungen, die seine Eltern mit den älteren Geschwistern gesammelt haben. Und es profitiert vom Abschauen bei den älteren Geschwistern. Es bekommt in der Regel mehr Freiheiten eingeräumt.

Dies kann aber den Nachteil haben, dass es einerseits verwöhnt, andererseits von seinen Geschwistern heftig beneidet wird. Das Jüngste muss also Strategien finden, wie es den Neid der Geschwister abwehrt, was zu inneren Konflikten führen kann.

Sicherlich ist nicht allein die Stellung innerhalb der Geschwisterreihe prägend. Dafür gibt es zu viele andere Faktoren, die Menschen prägen. Aber sie spielt eine Rolle im Leben. Auf diesem Hintergrund ist die Geschichte von der Erwählung Davids zum König interessant.

David war der Jüngste, das Nesthäkchen. Beim Besuch des Gottesmannes Samuel, der von Gott zu Isai geschickt wird, um aus der Reihe seiner acht Söhne den König zu bestimmen, wäre er fast übersehen worden. David, der Nachzügler, zählt wohl eher zu den mehr Verzogenen, zu den „Mädchen“, mit schönen Augen, blonden Haaren und schöner Gestalt. Er zählt nicht zu den Männern, die sich auszeichnen im harten bäuerlichen Wirtschaftsleben und schon gar nicht zu denen, die sich durch Tapferkeit und Klugheit im Krieg auszeichnen. Kurz gesagt: Er gilt nicht als tauglich, ein Volk zu führen, es zu verteidigen. Ihm wird keine politische Taktik und als Kleinstem auch keine Führungsqualität, Durchsetzungsvermögen und zäher Wille zugetraut.

Und da durchkreuzt Gott alle Pläne. Isai lässt vor Samuel seine ersten sieben Söhne zur Musterung aufmarschieren. Alles Männer mit stattlicher Gestalt. Aber bei jedem hört Samuel die innere Stimme: „Dieser ist es nicht!“ Lapidar heißt es: „Sieh nicht auf sein Aussehen und seine stattliche Gestalt. Gott sieht nicht auf das, worauf der Mensch sieht. Der Mensch sieht, was vor den Augen ist, der Herr aber sieht das Herz.“
Das Herz ist biblisch gesehen nicht wie bei uns der Ort für das Gefühl, das Weiche. Für das AT ist das Herz der Ort der Vernunft und der Entschlüsse, Ort des Verstandes und der besonnen Pläne. Und so salbt Samuel den „Kleinen“ in der Familie des Isai zum König. Und der wird zu einem nicht fehlerfreien, aber auch überaus fähigen Staatsmann, auf den das Volk Israel bis heute stolz ist.

Liebe Leser, wenn Sie sich in Ihrer Familie oder Ihrem Freundeskreis umschauen: Ist da aus Ihren Kindern, aus Ihren Geschwistern und Freunden das geworden, was Sie ihnen zugetraut haben? Oder gibt es da nicht viele Überraschungen. Mir scheint es so, als hätte der liebe Gott seine Freude daran, immer wieder Pläne, die sich Menschen von anderen machen, zu durchkreuzen. Hätten wir zu entscheiden, ich glaube die Welt wäre ein einziger Bahnhof mit Geleisen, auf die wir Menschen setzen würden und die genau in diesen Geleisen ein Leben lang zu fahren hätten. Gott scheint Überraschungen zu lieben, um Leben spannend und lebendig zu halten. Und Menschen etwas zuzutrauen, das Menschen für unmöglich halten.


Pfarrer Stefan Mai

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