Musikalische Passionsandacht zu den „Sieben Worten Jesu am Kreuz“

in der Johanneskapelle am 27.3.2011 mit freien Improvisationen von Danusha Waskiewicz (E-Bratsche)

I. (Stefan Mai)
Die Betrachtung der letzten sieben Worte Jesu ist eine Jahrhunderte alte Übung der Fastenzeit. Mit den letzten sieben Worten Jesu sind die Worte gemeint, die Jesus in den vier Evangelien bei seinem Sterben noch spricht:

Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!

Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein.

Frau, siehe dein Sohn - Siehe, deine Mutter!

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Ich bin durstig.

Es ist vollbracht.

Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.

Von großen Komponisten wurden sie vertont, wie z. B. von Heinrich Schütz und Joseph Haydn, und gehen dadurch emotional unter die Haut.
Diese letzten Worte aus den Evangelien bündeln die Stimmungslagen, in die wir Menschen geraten können, wenn uns Schweres bevorsteht. Sie reichen von purer Verzweiflung, von sich von Gott und den Menschen allein gelassen fühlen, sprechen aber auch von Zuversicht und tiefer Ergebung. Sie sprechen noch einmal von der Fürsorge für liebe Menschen und vom Verzeihen gegenüber denen, die mir übel mitgespielt haben, von einem letzten zufriedenen Blick auf das Leben. Diese alte Übung der Fastenzeit will dazu einladen, sich gedanklich und emotional einzustellen auf Tage, die schwer zu ertragen sind, wo der Boden wankt und ich nicht weiß, wie es ausgeht oder weitergehen soll.

Wir hören heute vier von diesen sieben letzten Worten Jesu und schauen dabei in diesem Raum auf verschiedene gotische Kreuzesdarstellungen, im Zentrum das Kreuz von Tilmann Riemenschneider. Und wir hören von Menschen, die vom Leid betroffen sind und wie sie sich im Leid verhalten: Von Christoph Schlingensief, der inzwischen seinem Krebsleiden erlegen ist. Von Menschen aus Japan, die durch Erdbeben und Tsunami in unsägliches Leid gestürzt wurden. Von einer Mutter Teresa und Dietrich Bonhoeffer. Und verknüpfen das Leben dieser Menschen mit den Worten Jesu. Ich denke wir spüren dabei, wie aktuell diese letzten Worte Jesu für Menschen im Leid auch heute noch sind.

II. (Jean- Pierre Barraud)
„Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ -

verzweifelte Textpassagen aus Christoph Schlingensiefs „Tagebuch einer Krebserkrankung“ (musikalische Interpretation)

Musik

III. (Stefan Mai)

Seit Freitag, dem 11. März ist die Welt anders als sie war.
Die Apokalypse scheint japanisch zu sprechen:

Danusha Waskiewicz auf der E-Bratsche interpretiert die Schilderung:

Zuerst das Erdbeben - wackelnde Wände - gewaltige Erschütterungen - zusammenstürzende Häuser......

dann der Tsunami - Schiffe, Autos, Häuser wie Spielzeuge in der gewaltigen Wucht und Zerstörungsmacht der Wassermassen, Trümmerlandschaften bleiben zurück, darunter Tausende von Toten.
Ganze Teile Nordjapans sind Todesland, ganze Städte und Dörfer ausgelöscht....

Im Atomkraftwerk von Fukushima treten die ersten Probleme auf: Kühlsysteme versagen - immer höhere Strahlenbelastung - verzweifelte Versuche, mit Hubschrauber Wasser herbeizubringen - - ein Reaktor des Atomkraftwerks von Fukushima explodiert - riesige Staubwolken in der Luft - weitere Explosionen - wie Skelette schauen die übrig gebliebenen Stahlkonstruktionen der zerstörten Atommeiler aus -
und jetzt der drohende nukleare Gau, von dem noch niemand weiß, welche Folgen die ausgetretenen Strahlen haben werden.
Hundert Tausende von Menschen werden evakuiert und suchen Schutz vor der Atomwolke.
Die Atomkatastrophe hat nicht nur Japan zerstört, sie hat die ganze Welt verändert...

Bilder von Menschen aus den Katastrophengebieten sind bei mir hängen geblieben:

Der junge Mann, der immer wieder verzweifelt sagt: „Ich hatte ein einfaches, aber glückliches Leben. Jetzt ist nur noch die Hölle.“

Die von Angst geschüttelte Frau, die in einem Sammellager mit zittrigen Händen und verweintem Gesicht zum Telefonhörer greift und verzweifelt versucht, die Stimmen ihrer Angehörigen am Telefon zu hören - und niemand hebt mehr ab.

Der junge Mann, der in einem Krankenhaus sein neugeborenes Kind in einer Decke fest umklammert in den Armen trägt und ganz verstört auf und abläuft und immer nur wieder sagt: „Ich muss es beschützen, ich muss es beschützen.“

Der Mann, der in einer Notunterkunft seine beiden Kinder wieder gefunden hat, aber seine Frau sucht, von Zimmer zu Zimmer läuft, sucht und sucht und vor einem überfüllten Raum von einer Helferin entschieden abgewiesen wird, in den Raum zu gehen, da er schon hoffnungslos überfüllt ist. Und der Mann kreuzt seine Hände vor der Brust und verneigt sich still vor der Frau.

Die alte Frau, die vor der Trümmerlandschaft ihres Dorfes steht. Ein Soldat übermittelt ihr die Nachricht vom Tod ihrer Angehörigen. Beide senken den Kopf, falten die Hände und beten.

Die Sorge um die Angehörigen und liebe Menschen ist eine treibende Kraft in erschütternden Lebenslagen, die auch im Wort Jesu am Kreuz zu finden ist, als er seine Mutter Maria und seinen Freund Johannes unter dem Kreuz stehen sieht und ihnen sagt:

„Siehe da, deine Mutter, siehe da, dein Sohn.

Musik

IV. (Stefan Mai)

„Mich dürstet!“

1928 tritt die 18-jährige Agnes Bojaxhius, Tochter einer begüterten Familie aus Albanien, in den Orden der Loreto-Schwestern ein. Ihr Traum: die Missionsarbeit. Agnes wählt den Ordensnamen Maria Teresa. Nach einem Englandaufenthalt, wo sie Englisch lernt und dem Noviziat in einem Kloster, hoch im Himmalaya gelegen, legt sie 1931 die zeitlichen Gelübde ab und wird als Lehrerin an eine ordenseigene Schule in Kalkutta geschickt. Dort unterrichtet sie bengalische Mädchen aus besseren Kreisen. Teresa erweist sich als hervorragende Lehrerin und steigt zur Schulerektorin auf. Nach ihrer ewigen Profess im Jahr 1937 erhält sie den Namen „Mutter Teresa“. Die Bezeichnung „Mutter“ ist in ihrem Orden für Lehrerinnen üblich. Zwanzig Jahre übt sie diese Tätigkeit aus.
Unmittelbar vor den Klostermauern liegen die Slums, in denen Teresa tagtäglich mit dem allgegenwärtigen Elend in Indien konfrontiert wird. Tausende von Menschen hausen hier; sie erledigen ihre Notdurft im Rinnstein und trinken verunreinigtes Wasser aus Straßenpumpen. Wenn im Sommer die Monsunfluten Teile des Landes überschwemmen, strömen Heerscharen von verzweifelten Menschen in die Stadt.
Was ihr hier jenseits der schützenden Klostermauern begegnete, ließ sie nicht mehr los: die Bettler, die ausgemergelten und kranken Menschen, die unerwünschten Kinder, die ausgesetzt und schlicht auf dem Müll entsorgt wurden. Am 10. September ereignet sich etwas, über das Mutter Teresa später nur sehr selten sprechen wird. Ganz deutlich glaubt sie die Worte Jesu zu hören: „Mich dürstet“.
Sofort erkennt sie den Sinn dieser Botschaft. „Ich sollte das Kloster verlassen und den Armen helfen, indem ich unter ihnen lebte. Ich hörte den Ruf, alles aufzugeben und Christus in den Slums zu folgen, um ihm unter den Ärmsten der Armen zu dienen. Ich wusste, es war sein Wille, und ich musste ihm folgen.
Sie bat um Erlaubnis, den Loreto Orden zu verlassen, wählte als Ordenskleid den weißen Sari mit der blauen Borte, das Kleid der Armen. Und sie begann ihre Arbeit, die sie bis ins hohe Alter ausfüllen sollte: Sie pflegte Kranke, begleitete Sterbende, sie kümmerte sich um Findelkinder, um die Ausgeschlossenen und die an den Rand Gedrängten. Sie gründete einen neuen Orden, die Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe. Immer mehr Frauen schließen sich der neuen Gemeinschaft an, die sich bald über Indien hinaus auf der ganzen Welt ausbreitet.

Mutter Teresa ließ in jeder Kapelle ihres Ordens neben das Kreuz das Wort „Sitio“ schreiben. Das Wort „mich dürstet!“.
Sie wollte sich und ihre Mitschwestern mit diesem Wort Jesu am Kreuz daran erinnern lassen, dass so viele Menschen auf dieser Welt wie dieser ohnmächtige Jesus am Kreuz auf Menschen angewiesen sind, die ihnen einen Dienst erweisen, der in oft verzweifelten Lebenslagen letztes Zeichen von Humanität und Menschenwürde ist.

Musik

V. (Jean Pierre Barraud)

„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ -

Berlin 1943.
Dietrich Bonhoeffer hört in seiner Gefängniszelle die verzweifelten Schreie und das Weinen eines Mitgefangenen. Er weiß, dass sein Nachbar hingerichtet werden soll. Dietrich Bonhoeffer erhebt sich und nähert sich der verbindenden Wand und spricht seinen Zellennachbarn an: „Können Sie mich hören? Ich bin Pater Bonhoeffer und möchte gerne mit Ihnen beten. Legen Sie dazu ihre Hände an die uns verbindende Wand. Auch ich werde meine Hände an die Wand halten. So als würden sich unsere Hände berühren. Nach einer kurzen Zeit der Stille beginnt Bonhoeffer zu sprechen. Er betet:
Gott, zu dir rufe ich:
In mir ist es finster, aber bei dir ist das Licht.
Ich bin einsam, aber du verlässt mich nicht.
Ich bin kleinmütig, aber bei dir ist die Hilfe.
Ich bin unruhig, aber bei dir ist der Friede.
In mir ist Bitterkeit, aber bei dir ist die Geduld.
Ich verstehe deine Worte nicht, aber du weißt den Weg für mich.


Es wird still -
Der Mann in der anderen Zelle hat sich beruhigt. Die Worte des Gebetes haben ihm Kraft und eine neue Perspektive gegeben. Einen Tag später kommt der Gefängniswärter zu Dietrich Bonhoeffer und teilt ihm lapidar mit: „Der Mann aus der Nebenzelle wurde in den frühen Morgenstunden hingerichtet. Er war gefasst. Ich dachte mir, es würde Sie interessieren.“ Dann fügte er noch hinzu: „War das Gebet von Ihnen? Schreiben Sie es auf, ich werde es den anderen zum Tode Verurteilten geben.“

(Einer fängt leise zu singen an „Von guten Mächten wunderbar geborgen...immer mehr Stimmen kommen dazu)

VI. (Jean Pierre Barraud)

Vater unser - Segen

Musik


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