Weltfremd?

Predigt zum 7. Sonntag im Jahreskreis (Mt,38-48)

Predigt

„Leistet dem, der euch Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin!“
„Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen!“

Jesus, deine edle Gesinnung in Ehren! Aber bist du nicht ein wenig weltfremd. Wohin man mit deinen Ratschlägen kommt, das hast du doch selbst am Ende am eigenen Leib verspürt. Und wer es als Kind nicht lernt, sich zu wehren, wird dauernd gepisackt. Drum ist unsre Devise: „Lass dir nicht alles gefallen!“ Und mit deiner Devise Politik zu machen, würde jeden Politiker scheitern lassen. Jesus, deine hohe Gesinnung in Ehren! Aber fürs Leben taugt sie nicht!
So ähnlich denken wir doch bei diesen Spitzensätzen aus der Bergpredigt.

Aber ist das wirklich so weltfremd, fragt Erich Fried, der bekannte österreichische Dichter mit jüdischen Wurzeln, der sich als Atheist bezeichnet.
Erich Frieds Eltern wurden im April 1938 von den Nazis verhaftet. Ende Mai wird der Vater in erbärmlichem Zustand, halb totgeschlagen, aus der Haft entlassen. Erich Fried schreibt:" ... am 24. Mai 1938, an seinem 48. Geburtstag, kam er heim, wurde heimgebracht in sterbendem Zustand. Ich habe ihn auf der Treppe getroffen und nicht wieder erkannt ... Er war weißhaarig und hatte weiße Bartstoppeln. Er war zuvor nicht weiß gewesen, und unrasiert hatte ich ihn nie gesehen. Er ist am selben Tag gestorben.“
Erich Fried musste vor den Nazis fliehen. Und das Thema Schuld, Vergebung und Feindesliebe begleiten ihn ein Leben lang. Immer wieder greift er es in seiner Lyrik auf. Ein Jahr vor seinem Tod schreibt er in seinem Gedicht „Weltfremd“:

Wer denkt
daß die Feindesliebe
unpraktisch ist
der bedenkt nicht
die praktischen
Folgen
der Folgen
des Feindeshasses


Der Atheist Erich Fried bescheinigt einem Jesus mit seinem Wort von der Feindesliebe Realitätssinn. Er stellt die Frage in den Raum: Ist der Verzicht auf den Gegenschlag, die Haltung, die sich weigert, den Feind als den zu sehen, der er ist, sondern ihn provoziert, der zu werden, der er noch nicht ist, nicht die einzige Möglichkeit, die Gewaltspirale zu durchbrechen?
Immer wieder treffen wir auf Menschen, die diese Feindesliebe Jesu konsequent gelebt haben. Und jedes Mal stockt mir dabei fast der Atem. So wie zum Beispiel bei dem russischen Pastor Demitri.

Wegen seines Glaubens wurde er ins Arbeitslager gebracht. Im Gefängnis schlugen die Wärter mit einem Hammer auf seine Wirbelsäule ein. Als sie eine bestimmte Stelle trafen, wurde er gelähmt. Er konnte nur noch seinen Hals bewegen, sonst nichts. Sie ließen ihn einfach liegen. Wie sollten seine Mitgefangenen ihn pflegen? Es gab kein fließendes Wasser in der Zelle, um ihn zu waschen. Es gab keine Bettwäsche, die sie wechseln konnten. Er lag da in seinem Schmutz. Er konnte noch nicht einmal seine Hand ausstrecken, um einen Becher Wasser zum Munde zu führen. Die anderen Insassen, die laufen und arbeiten konnten, mussten draußen Zwangsarbeit verrichten. Sie kamen erst am Abend zurück, und so lange musste er auf seinen Becher Wasser warten.
So lag er einige Jahre lang im Gefängnis. Es war wie die Hölle auf Erden. Schließlich wurde Demitri entlassen. Er war wieder bei seiner Familie und seinen Freunden. Kein Arzt konnte ihm helfen, aber jetzt hatte er liebevolle Hände, die ihn pflegten. Aber immer noch konnte er weder Hand noch Fuß bewegen.
Eines Tages klopfte jemand an seine Tür. Es war der Kommunist, der ihn zum Krüppel geschlagen hatte. Er sagte: "Mein Herr. Glauben Sie nicht, dass ich gekommen bin, um Sie um Vergebung zu bitten. Es gibt keine Vergebung für das, was ich getan habe - weder auf Erden noch im Himmel. Sie sind nicht der einzige, den ich so gefoltert habe. Sie können mir nicht vergeben. Nein, niemand kann mir vergeben. Noch nicht einmal Gott. Mein Verbrechen ist zu groß. Ich bin nur gekommen, um Ihnen zu sagen, wie leid mir das tut, was ich getan habe. Von hier will ich dann fortgehen und mich erhängen. Das ist alles." Er wendete sich zum Gehen.
Da sagte der gelähmte Bruder, Demitri, zu ihm: "Mein Herr, in all den Jahren habe ich niemals so sehr bedauert, meine Arme nicht bewegen zu können, wie heute. Ich würde sie so gerne ausstrecken und Sie umarmen. Seit Jahren habe ich für Sie Tag um Tag gebetet. Ich liebe Sie von ganzem Herzen. Ihnen ist vergeben!"


Fürbitten

Herr, unser Gott, Jesus verlangt: Wir sollen nicht Gleiches mit Gleichem vergelten, sondern die anderen ohne Vorbehalt lieben. Damit tun wir uns schwer und bitten dich deshalb:

Jesus erwartet von uns, dass wir dem, der uns auf die rechte Wange schlägt, auch die andere hinhalten. Wir tun uns aber schon schwer damit, unseren Gegenschlag in Grenzen zu halten. Wir bitten dich um Geduld und Verständnis

Jesus erwartet von uns, dass wir dem, der uns das Hemd wegnehmen will, auch noch den Mantel lassen. Uns aber fällt schon das Loslassen kleiner Dinge so schwer. Wir bitten dich um Großzügigkeit und Freigiebigkeit.

Jesus erwartet von uns, dass wir den, der etwas von uns borgen will, nicht abweisen. Wir schauen aber oft nur darauf, was wir für uns bekommen könnten. Wir bitten um Hilfsbereitschaft und Offenheit.

Jesus erwartet von uns, dass wir nicht nur unsere Nächsten, sondern auch unsere Feinde lieben. Uns gelingt es aber manchmal kaum, mit unserer Umgebung in Frieden zu leben. Wir bitten dich um Freundlichkeit und Versöhnungsbereitschaft.

Jesus erwartet von uns, dass wir beten: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern. Verzeih uns, was wir gegenüber unseren Verstorbenen schuldig geblieben sind und lass uns ihnen vergeben können, was sie uns schuldig geblieben sind. In diesem Gottesdienst beten wir für......

Darum bitten wir heute durch Christus, unsern Herrn.


Pfarrer Stefan Mai

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