Der Stern des Großvaters

Predigt zu Dreikönig 2011

Einleitung

Drei Dinge sind uns aus dem Paradies geblieben: die Sterne der Nacht, die Blumen des Tages und die Augen der Kinder (Ernesto Cardenal).

Predigt

Der Stern hat ihnen den Weg gewiesen, den Weisen aus dem Morgenland. Fast magische Anziehungskraft hat er: Er zieht sie von daheim weg in fremde Länder, lässt sie nach dem Weg suchen – und führt sie tatsächlich zum Ziel. Sterne üben bis heute auf Menschen eine magische Anziehungskraft aus. Eine Frau, die auf ihre Kindheit in der Nachkriegszeit zurückschaut, erzählt:

Als Kind saß ich oft mit meinem Großvater abends vor dem Haus und betrachtete den Sternenhimmel. Großvater kannte alle Sterne mit Namen. Er zeigte mir zu den verschiedenen Jahreszeiten, wo die Sterne standen. Für mich waren das damals die schönsten Stunden des Tages. Der Blick zum Himmel ließ mich den knurrenden Magen vergessen und das sorgenvolle Gesicht meines Vaters, der wieder keine Arbeit gefunden hatte.
Eines Abends sprach Großvater ganz ernst mit mir. Er sagte: „Schau, ich bin sehr alt und sehne mich danach, endlich hinter die Sterne schauen zu dürfen und dort bei Gott Großmutter wieder zu sehen. Ich merke, dass es bald so weit ist. Deshalb möchte ich, dass du meinen Stern übernimmst. Ich habe ihn mir als Kind ausgesucht, und immer, wenn die Erde mir zu schwer wurde, habe ich zum Himmel geschaut, meinen Stern gesucht und bin einfach eine Weile bei seinem Licht geblieben. Es war Gottes Licht am Himmel für mich. Das hat mir sehr vieles leichter gemacht: zu wissen, dieses Licht ist immer da. Dir soll es auch so gehen. Nimm meinen Stern und schaue immer zum Himmel auf, wenn dich hier auf Erden etwas niederdrückt! Bleib eine Weile bei unserem Stern, atme tief durch und glaube mir: Es wird dir gut tun.
Da zeigte mir Opa sein Himmelslicht. Es war zum Norden hin der Stern, der beim Großen Bären in der Höhe des Polarsternes stand. Immer wenn ich es sehr schwer habe, gehe ich an das Fenster oder vor das Haus und schaue nach meinem Stern. Oft ist der Himmel verhangen, aber ich weiß, hinter den Wolken ist sein Licht. Und allein das Wissen, dass er da ist, genügt mir.


Die Geschichte von den Weisen aus dem Morgenland. Ein Stern am Nachthimmel. Vielleicht auch für uns eine Erinnerung daran: Oft ist der Himmel verhangen, aber ich weiß, hinter den Wolken ist sein Licht. Und allein das Wissen, dass er da ist, genügt mir.


Pfarrer Stefan Mai

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