Eine verrückte Rose

Liedkatechese zu „Es ist ein Ros entsprungen“ an Silvester 2010/ Neujahr 2011

Einleitung Silvester

Jeder Buchhalter ist froh, wenn am Ende eines Jahres die Bilanz aufgeht, Soll- und Habenseite ausgeglichen sind. Und jeder Geschäftsmann ist froh, wenn er am Ende eines Jahres eines schönes Plus stehen bleibt.
Wenn wir auf unser eigenes Leben schauen, geht es uns nicht anders. Hoffentlich überwiegt das Plus.

Kyrierufe
Lass dankbar sein für Glück und Freud, und gib uns Kraft für Schmerz und Leid
GL 919,2
Vertilge was vom Bösen war, des Guten Frucht mach offenbar!
GL 919,2
Was nicht zu ändern ist, lass steh’n, und hilf uns, neue Weg geh’n
GL 919,2

Einleitung Neujahr

Bevor ein neues Jahr beginnt, werden Haushaltspläne vorgelegt. In der großen Politik genauso wie in jeder Gemeinde und in jeder Pfarrei. Die Verantwortlichen versuchen die Zahlen so hinzubiegen, dass Soll und Haben ausgeglichen sind.
Und das ist auch die Hoffnung für uns selber, wenn wir aufs Neue Jahr schauen. Dass Freud und Leid, Verlust und Gewinn einigermaßen ausgeglichen sind.
Um einen ausgeglichenen Lebenshaushalt bittet auch der Dichter Eduard Mörike (1804-1875):

Herr! Schicke, was du willst,
ein Liebes oder Leides;
ich bin vergnügt, dass beides
aus deinen Händen quillt.

Wollest mit Freuden
und wollest mit Leiden
mich nicht überschütten!
Doch in der Mitte
liegt holdes Bescheiden.


Predigt

Es gehört zu den zartesten Weihnachtsliedern, die wir kennen, das Lied „Es ist ein Ros entsprungen“. Klirrende Kälte und eine zarte Blüte werden da einander gegenüber gestellt.
Entstanden ist das Lied vermutlich in der Gegend um Trier. Erstmals taucht es in einer Handschrift 1599 auf. Die Legende erzählt:

Der Benediktinermönch Laurentius ging an einem Weihnachtsmorgen in den Klostergarten. Draußen war es bitterkalt. Da fiel sein Blick auf eine Pflanze, die ein Missionar ihm aus dem hohen Norden mitgebracht hatte. Er hatte sie damals in den Garten eingepflanzt. Die Pflanze blühte aus dem Schnee heraus. Mitten im Winter!
Laurentius blieb davor staunend stehen. Von dieser Blüte war er tief berührt. Während er sie betrachtete, flogen ihm die Verszeilen und die Melodie zu.

(Orgel spielt Melodie – der Text wird hineingesprochen)


Es ist ein Ros entsprungen aus einer Wurzel zart, wie uns die Alten sungen, aus Jesse kam die Art, und hat ein Blümlein bracht mitten im kalten Winter wohl zu der halben Nacht.
Bei „Rose“ denken wir gewöhnlich an eine schöne rote Rose mit Dornen. Doch die Legende verweist auf einen Missionar aus dem Norden, der eine winterharte Pflanze ins Kloster mitgebracht hat. Das lässt eher an die winterfeste Christrose denken. In den Augen des Mönches jedoch war die Christrose ein Wunder der Natur.
Eiseskälte und eine zarte Blüte. Verrückt! Kein Wunder, dass diese Christrose in der Botanik auch helleborus genannt wird, was nichts anderes heißt als „verrückt“.

Mir ging es manchmal wie diesem Mönch Laurentius. Wenn ich im Winter zur Kirche ging, fiel mein Blick in der Nähe der Kirchentür auf eine Christrose. Mitten im Winter blühte sie direkt neben einem Abfalleimer. Sie bekam auch manchen Dreck ab, der eigentlich im Abfalleimer hätte landen sollen. Und trotzdem verlor sie nichts von ihrer Schönheit – mitten im Dreck.

Liebe Leser,
die Christrose im Schnee, die Christrose am Abfalleimer, das sind für mich starke Bilder sowohl für den Rückblick auf ein Jahr als auch für die Vorausschau auf ein neues Jahr: Eiseskälte und wohltuende Zärtlichkeit, Stunden, die einen zum Erstarren bringen, und Augenblicke, die einen innerlich berühren, beides hat es im alten Jahr gegeben und beides wird es im Neuen Jahr geben. Chaos, Schmutz und Durcheinander auf der einen Seite, inneres Aufgeräumtsein, Glanz und Schönheit auf der anderen Seite. Beides gehört zum Leben. Glücklich aber kann nur leben, wer darauf vertraut, dass die lebensbejahenden Kräfte die Oberhand behalten.
Ich wünsche Ihnen und mir dieses verrückte Vertrauen, dass auch in unserem Leben die Schönheiten über die Widerwärtigkeiten siegen, die Ordnung über das Durcheinander – wie die zarte Christrose über die Kälte.


Pfarrer Stefan Mai

© Stefan Mai 2001 - 2024
Alle Rechte vorbehalten.
Vervielfältigung nur mit Genehmigung von Pfarrer Stefan Mai.

www.stefanmai.de