Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich

Predigt zum Familiensonntag 2010

Einleitung

In diesem Jahr fällt der Familiensonntag auf den Stefanustag.
Weihnachten ist das Fest des Familientreffens. Für die einen ist das eine große Freude, wenn die Familie wieder einmal zusammenkommt. Dann werden die alten Familiengeschichten wieder gründlich aufgewärmt. Für die anderen ist ein schwerer Tag, wenn es in der Familie nicht mehr klappt und jeder für sich bleibt.
In diesem Jahr fallen der zweite Weihnachtsfeiertag und der Familiensonntag zusammen. Ein Weihnachtslied, das ich Ihnen heute vorstellen möchte, erzählt von einer nicht leichten Familiengeschichte.

Predigt

Nur wenige Kilometer von der deutschen Grenze entfernt liegt in der tschechischen Republik das Städtchen Jáchynov. Damals, im Jahr1560, hieß es noch Joachimsthal und gehörte zu Böhmen. Zwei Jahre zuvor war hier eine Silbererzgrube wieder in Betrieb genommen worden. Münzen wurden geprägt: die Joachimsthaler. Später, im ganzen deutschen Reich nur Thaler genannt.
In diesem Joachimsthal bildete der Lehrer und Kantor Nikolaus Herman mit dem Pfarrer Johann Mathesius ein ähnlich kreatives Gespann wie dreihundert Jahre später in Oberndorf bei Salzburg die Schöpfer des Liedes „Stille Nacht“, der Lehrer und Organist Franz Xaver Gruber mit dem Hilfspriester Josef Mohr. Pastor Mathesius war ein Protestant der ersten Stunde. Ein eindrucksvoller Prediger. Einst saß er als Theologiestudent unter dem Katheder von Doktor Martin Luther. Über ihn wird berichtet: „Wenn Herr Mathesius eine gute Predigt getan, ist der fromme Kantor geschwind dagewesen und hat sie in die Form des Gesangs gebracht.“ So entstand eine große Zahl von Liedern. Dahinter stand die pädagogische Weisheit, dass alles, was gesungen wird, leichter zu lernen und besser zu behalten ist, als wenn man es nur liest und hört.
Um 1560, in seinen Krankheitstagen vor seinem Tod, schuf der Kantor Nikolaus Herman das Weihnachtslied „Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich.“ Wir kennen den Text:
Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn.
Hinter dieser tiefgründig klingenden theologischen Aussage über Bedeutung von Weihnachten steckt ein entscheidendes Erlebnis aus der Familiengeschichte von Nikolaus Herman.
Christoph, sein jüngster Sohn, sträubte sich gegen den Wunsch seines Vaters, Kirchenmusiker zu werden. Er wollte lieber Bergmann sein.

Die Streitereien wurden immer heftiger, bis Christoph eines Tages sein Geld zusammenkratzte, die Tür zuknallte und verschwand. Für den Vater brach eine Welt zusammen. Mit dem Schreiben von Kirchenliedern war es vorbei. Das ging nicht mehr. Die Trauer wurde Jahr für Jahr quälender. Schließlich, im achten Jahr nach seinem Verschwinden, kehrt Christoph ganz still und heimlich nach Joachimsthal zurück. Getrieben von Krankheit und Not. Es ist heiliger Abend. Am Elternhaus traut er sich nicht anzuklopfen. So schleicht er in einen stillgelegten Stollen des Bergwerks. Da ist eine Tür, die sich öffnen lässt. Christoph tritt hindurch – aber dann fällt die Tür hinter ihm ins Schloss. Solche Wettertüren haben auf der Innenseite keinen Griff. Christoph hat sich selbst eingesperrt.
Hier unten hilft keinen Rufen und Schreien und Klopfen. Und über Weihnachten kommt für vier Tage niemand hierher. Ermattet gibt Christoph auf. Er schläft ein.
Oben, in Joachimsthal, wird Weihnachten gefeiert. Vor der Kirche trifft der alte Stollenaufseher den Kantor und fragt ihn, ob er etwas von Christoph wisse. Mathesius schüttelt stumm den Kopf. Da sagt ihm der Aufseher: „Gestern Abend sah ich beim alten Silberschacht eine Gestalt, die sich schnell versteckte, als sie mich sah. Für einen Moment dachte ich, es könnte Christoph sein.“ Da packt Herman den Stollenaufseher am Arm und sagt: „Wir müssen im Stollen suchen.“ Sie steigen hinab, durchsuchen Stollen für Stollen. Als sie die letzte Tür öffnen, da sehen sie im Licht der Grubenlampe jemanden am Boden liegen. Ein Toter? Nein, er lebt. Es ist Christoph. Der öffnet ganz benommen seine Augen und sagt: „Das kann doch nicht sein. Die Tür ist ins Schloss gefallen. Die geht nicht mehr auf.“ Doch der Vater sagt: „Die Tür ist offen.“

Liebe Leser,
hören Sie jetzt unser Weihnachtslied anders? Lobt Gott, ihr Christen, alle gleich, in seinem höchsten Thron, der heut schließt auf sein Himmelreich und schenkt uns seinen Sohn.
Gelehrte Theologen erklären den tiefen Inhalt von Weihnachten oft damit, dass sie sagen: Die Paradiestür, die Gott beim Sündenfall von Adam und Eva für die Menschen verschlossen hat, die öffnet er wieder mit der Geburt seines Sohnes.
Sicher hat der gelehrte Lutherschüler und Pfarrer Mathesius wortgewaltig das Geheimnis von Weihnachten so erklärt. Aber Sie spüren: Dem Herzen nah geht diese theologische Weisheit erst dann, wenn sie in eine Familiengeschichte eingeschrieben wird – wie an jenem Weihnachtsfest im Haus des Kantors Nikolaus Herman, der seinem Sohn die Tür wieder geöffnet hat.

(Die Anregung zu dieser Predigt verdanke ich P. Hinsen, in: Katholisches Apostolat, Dezember 2010, 366f.)


Pfarrer Stefan Mai

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