Stille Nacht, heilige Nacht

Predigt zur Christmette 2010

Einleitung

Weihnachten ist das Fest der kleinen Leute. So erzählt es das Weihnachtsevangelium. Die Hirten draußen vor den Toren der Stadt sind die bevorzugten Adressaten der himmlischen Botschaft.
Auch viele Lieder erzählen davon. In der evangelischen Kirche gibt es die Tradition des Quempas. Eine Abkürzung für das lateinische quem pastores laudavere – „den die Hirten lobeten sehre“. Eindrücklich wird vor Augen gestellt, es sind diese kleinen Leute, die als erste kapiert haben, was Weihnachten bedeutet: Der König der Ehren wird einer Kleiner wie wir.
Lassen wir diese alte evangelische Tradition in unserer katholischen Kirche auf uns wirken.

Predigt

Alle Welt erzählt sich: Am Heiligen Abend des Jahres 1818 war in Oberndorf (im Salzburger Land, nicht in Schweinfurt) Katastrophenstimmung. Die Orgel war ausgefallen. Was sollte das für eine Christmette werden – ohne Orgel? In seiner Not setzte sich Pfarrer Josef Mohr hin und dichtete ein Weihnachtslied, rannte damit zum Dorfschullehrer Franz Gruber und bat ihn, dazu eine Melodie zu schreiben. Und in der Mette trugen die beiden, der eine Tenor, der andere Bass, mit Gitarrenbegleitung zum ersten Mal das Lied vor, das einen Siegeszug um die Welt machen sollte: „Stille Nacht, heilige Nacht“.
So schön diese Entstehungslegende ist, so unwahrscheinlich ist sie. Unmöglich, dass der Priester Josef Mohr die Messe, die damals nach tridentinischem Ritus in Latein gelesen wurde, hätte unterbrechen können, um zur Gitarre zu greifen und mit dem Lehrer im Duo das Lied vorzutragen. Außerdem hat es ein Archivfund von 1995 ganz klar ans Licht gebracht: Den Text von „Stille Nacht“ hat Josef Mohr bereits zwei Jahre früher geschrieben, als er noch in einer ganz anderen Pfarrei tätig war. 1816 in Maria Pfarr. Das Gnadenbild dieser Kirche zeigt das Jesuskind mit Locken. Das gab Mohr die Idee für seinen „holden Knaben im lockigen Haar“. Dass sein Weihnachtsgedicht auf dem Siegeszug um die ganze Welt war, hat Mohr nie erfahren. 1848 ist er an Lungenentzündung gestorben. Es waren Kaufleute, die das Lied aus dem Salzburger Land in die großen Messestädte wie Leipzig und von dort in alle Welt gebracht haben.
Aber das Geheimnis des Welterfolgs von „Stille Nacht“, die tiefe Emotionalität, die jeden berührt, hat mit dem Leben des Josef Mohr selbst zu tun. Nie hat er es weiter gebracht als bis zum Hilfspfarrer. In seiner Heimatdiözese Salzburg wurde er ständig von einer Stelle auf die andere geschoben. Er starb völlig mittellos als Pfarrvikar von Wagrain im Hinterland von Salzburg.
Dass er nie auf eine renommierte Pfarrstelle gesetzt worden ist, hängt vermutlich damit zusammen, dass er als uneheliches Kind geboren wurde. Als drittes Kind einer ledigen Frau kam er zur Welt. Und deren „fleischliche Verbrechen“ wurden in der Pfarrchronik ihrer Gemeinde ausdrücklich festgehalten.
Die Älteren unter uns wissen, welcher Spießrutenlauf ledigen Müttern mit unehelichen Kindern zugemutet wurde. „Bankerten“ hat man die Kinder genannt. Nicht nur, dass diese Kinder auf eine geborgene Atmosphäre in einer Familie verzichten mussten, auf sie wurde auch noch mit dem Finger gezeigt. Sie hatten in der Gesellschaft kaum eine Chance.
Auf diesem biographischen Hintergrund gehört, ist „Stille Nacht“ ein Sehnsuchtslied. Es besingt die Sehnsucht nach Geborgenheit, Zusammenhalt, Sich-aufgehoben-Wissen bei Vater und Mutter, Geschützsein, nach einer glücklichen, frohen Kindheit: „… einsam wacht nur das traute, hochheilige Paar … Gottes Sohn, o wie lacht Lieb aus deinem göttlichen Mund“.
Eigentlich besingt Josef Mohr, was ihm im Leben gefehlt hat. Und eigentlich besingt er, was er im Glauben zu finden hoffte. Und vielleicht ist es genau das, was Menschen an diesem Lied so berührt: diese Sehnsucht nach Geborgenheit, die in keinem Leben ganz gestillt wird. Und diese Hoffnung, dass ich in meinem Glauben erfahren darf: Egal, wie mir das Leben mitspielt, einer lässt mich nicht fallen.


Pfarrer Stefan Mai

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