Last Lecture

Ansprache zum Totengedenken auf dem Friedhof am Allerheiligentag

Beim einem Leichenschmaus vor ein paar Wochen fragte mich ein Mann: „Herr Pfarrer, wäre es möglich, dass ich bei meiner Beerdigung einmal selber die Ansprache halte? Dass ich vor meinem Tod noch einmal zusammenfasse, was mir wichtig war und ist und noch einmal das sage, was mir auf dem Herzen liegt? Ich kenne mich schließlich doch selbst besser als die anderen mich kennen.“

An vielen amerikanischen Universitäten gibt es einen interessanten Brauch: Professoren werden gebeten, über das zu sprechen, was sie in ihrem privaten und beruflichen Leben für das Wichtigste halten. Sie sollen ihre Erfahrungen im Leben und Beruf so präsentieren, als wäre dies ihre „Last Lecture“, die letzte Vorlesung ihres Lebens.
Eine solche „Last Lecture“ hat Millionen Amerikaner vor zwei Jahren tief bewegt: Als der Informatikprofessor Randy Pausch - 47 Jahre alt, verheiratet, Vater von drei Kindern - von der Universität in Pittsburgh, eingeladen wird, die wertvollsten Lehren seine Lebens vorzutragen, ist ihm bewusst, dass dies tatsächlich seine letzte Vorlesung sein wird. Er hatte Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium.
Randy Pausch ging ans Rednerpult und hielt eine lebensbejahende Rede unter dem Titel „Deine Kindheitsträume wahr werden lassen“. Er erzählt, welche Erfahrungen er beim Versuch gemacht hat, seine Visionen in die Tat umzusetzen und ermutigt auch seine Zuhörer, ihre eigenen Träume zu leben.
„Wir können die Karten, die uns gegeben werden, nicht tauschen, wir müssen entscheiden, wie wir sie ausspielen.“ - So empfiehlt er, die eigenen Grenzen zu akzeptieren und gleichzeitig alle Möglichkeiten zu nutzen, innerhalb dieses Rahmens ein erfülltes Leben zu gestalten.
„Erfahrung ist das, was du bekommst, wenn du nicht bekommst, was du willst.“ - Mit diesem Satz macht er klar, dass wir auch aus Wünschen, die nicht erfüllt werden und wahr werden, einen Gewinn ziehen können.
„Wenn du alles falsch machst, und keiner kritisiert dich, dann heißt das, dass sie dich aufgegeben haben. Denn Kritik bedeutet, dass du deinen Leuten noch immer etwas bedeutest.“ - Damit gab er den Rat, Rückmeldungen und Einwände als Chance zu sehen, noch etwas dazuzulernen.
„Man muss nur lange genug warten, und die Menschen überraschen und beeindrucken dich.“ - So wirbt er um Geduld im Umgang mit unseren Mitmenschen, und warnt davor sie vorschnell abzuschreiben.
Neun Monate nach seiner „Last Lecture“, am 25. Juli 2008, ist Randy Pausch gestorben.
Wie wäre es, wenn wir uns durch ihn anregen ließen, heute bei unserem Totengedenken, bei den Gräberbesuchen, beim Schlendern durch die Allee, wenn die Blätter fallen, uns zu fragen: Was ist in meiner Lebensgeschichte wichtig? Was kann bestehen im Angesicht des Todes? Wir gehe ich mit dem großen Startkapital, das mir ins Leben mitgegeben wurde, mit meinen Talenten um? Welche Träume konnte ich verwirklichen? Welche Hindernisse stellten sich mir in den Weg? An welchen schmerzlichen Erfahrungen bin ich gereift? Was habe ich aus Niederlagen gelernt? Und welche Ziele bleiben mir noch?
Wie wäre es, wenn wir beim Gang über den Friedhof ins Nachdenken kämen: Was soll einmal über mein Leben gesagt werden? Was möchte ich als Vermächtnis hinterlassen, wenn ich morgen sterben müsste?

„Herr Pfarrer wäre es möglich, dass ich bei meiner Beerdigung einmal selber die Ansprache halte. Dass ich vor meinem Tod noch einmal zusammenfasse, was mir wichtig war und ist und noch einmal das sage, was mir auf dem Herzen liegt?“
Ich kann auf diese Frage nur antworten: Eine solche „Last Lecture“ - das wäre die beste Beerdigungsansprache.
Und zugleich frage ich mich: Warum denn solange warten? Glauben Sie nicht, dass es ein großer Dienst an den Menschen, die ich schätze, wäre, hin und da eine „Last Lecture“ zu halten - weitererzählen, was mich das Leben gelehrt hat und denen danken, die meinen Weg mit ihrer Zuneigung und Hilfe begleiten?

Die Anregung zur Predigt verdanke ich Wolfgang Raible, Anzeiger für die Seelsorge 11/2009, S. 28


Pfarrer Stefan Mai

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