Zwei Lektionen aus Indien

Predigt zum Weltmissionssonntag 2010

Einleitung

Reisen bildet, meint schon der biblische Weise Jesus Sirach. „Wer viel gereist ist, hat reiches Wissen … der Vielgereiste nimmt zu an Klugheit“, schreibt er (Sir 43,9.11).

Das wissen wir alle: Wer in fremde Länder reist, erweitert seinen Horizont, gewinnt neue Erkenntnisse und sieht daheim alles aus einer anderen Perspektive.
Reisen bildet – auch unter diesem Motto könnte man einmal den Weltmissionssonntag begehen. Sozusagen als virtuelle Reise, als Reise mit dem Kopf in ein fernes Land, um dort Entdeckungen zu machen – und für daheim etwas zu lernen.

Predigt

Am Weltmissionssonntag geht unser Blick gewöhnlich in ein bestimmtes Land außerhalb Europas. Wir werden mit den Lebensverhältnissen vertraut gemacht, mit den Bedingungen, unter denen die Christen dort leben – und wir werden aufgefordert, bestimmte soziale Projekte zu unterstützen. So kennen wir das.

Am heutigen Weltmissionssonntag möchte ich mir vom diesjährigen Gastland Indien eine Lektion erteilen lassen. Und zwar von zwei Menschen aus diesem Land, die zu religiösen Leitfiguren geworden sind. Von einer Frau und von einem Mann. Der Mann lebte im 6. Jh. v. Chr. und hat eine große religiöse Bewegung ins Leben gerufen. Die Frau lebte am Ende des 20. Jh. und gilt als Vorbildheilige unserer Tage. Trotz des großen zeitlichen Abstands waren es ähnliche Erfahrungen, denen beide ihre religiöse Erleuchtung verdanken.

Der Mann, von dem ich erzähle und den Sie gleich erkennen werden, war ein Königssohn. Beunruhigt durch eine Prophezeiung, sein Sohn werde dereinst sein Königreich verleugnen, sorgte der König dafür, dass sein Sohn 100% behütet und von allem Leid unberührt aufwuchs. Dem jungen Mann fehlte es an nichts: keine Sorgen, keine unerfüllten Wünsche. Seine Welt, das war der Palast, der große Garten und das Spiel mit seinen Freunden. Lange Zeit bemerkte er gar nicht, dass er völlig abgeschirmt war von der übrigen Welt.

Eines Tages wünschte er den Palast zu verlassen, um einen Eindruck von Land und Volk zu gewinnen, die er dereinst regieren würde. Da erschrak sein Vater. Er ordnete an, dass alle alten, armen und kranken Menschen die Stadt zu verlassen und sich in den Elendsvierteln zu verbergen hätten. Alles Abstoßende und Hässliche, das dem Sohn sein schönes Trugbild hätte zerstören können, ließ er aus der Stadt entfernen.

Die Stadt wurde für den Ausflug des Kronprinzen reich geschmückt und er selbst vom Volk mit Freude und Ungeduld erwartet. Sowie er den Palast verließ, umwogte ihn ein Meer von gesunden und kräftigen Menschen, denen es an nichts zu fehlen schien.

Dann aber geschah etwas Unvorhergesehenes: Mitten in der begeisterten Menschenmenge erblickte der Königssohn einen bettelnden Jungen, den sein abgehärmtes Äußeres scharf von der jubelnden Masse abhob. Er rief den Jungen zu sich, aber der lief davon. Und als der Prinz ihm folgte, gelangte er unversehens in die Elendsviertel der Stadt und wurde zum ersten Mal in seinem Leben mit Tod, Krankheit, Armut und Hoffnungslosigkeit konfrontiert.
Tief betroffen kehrte er in den Palast zurück und stellte seinen Vater zur Rede, um Erklärung und Trost für das Gesehene zu finden. Der König jedoch konnte ihn weder beruhigen, noch ihm Ursache oder gar Sinn dieser Zustände aufschließen.

Darauf empfand, so erzählt die Legende weiter, der Königssohn Abscheu vor seinem reichen Leben als Prinz. Die Vergänglichkeit der Welt überwältigte ihn und ließ ihm sein ganzes bisheriges Leben sinnlos erscheinen.
Er beschloss, alles aufzugeben, was ihm bisher lieb und teuer gewesen war. Schon in der darauf folgenden Nacht verließ er den Palast, seinen Vater, seine Frau und seinen eben erst geborenen Sohn. Was mit einem kurzen Ausflug begann, wurde eine lebenslange Pilgerfahrt. Er durchlebte seelische Höhen und Tiefen, Glück und tiefes Leid – auf der Suche nach Erkenntnis und Erlösung. Auf diese Weise gewann er das Wissen vom Wesen des Leidens und erkannte schließlich die tiefe Wahrheit: Die Ursache des Leidens sind das Begehren und das Nichtwissen. Ihm wurde bewusst, dass die Welt darum so unglücklich ist. Dieses Unglück überwinden heißt: aufhören zu begehren.

Das war die Erleuchtung für den Königssohn Siddharta Gautama, den man seither „Buddha“, den Erleuchteten, nennt.
Über 2500 Jahre später gibt es im gleichen Kulturkreis ein ähnliches Umkehrerlebnis. Diesmal handelt es sich um eine Frau, Tochter einer begüterten Familie aus Albanien.
1928 tritt die 18-Jährige in den Orden der Loreto-Schwestern ein. Ihr Traum: die Missionsarbeit. Nach einem Englandaufenthalt, wo sie die Sprache lernt, und dem Noviziat in Darjeeling, hoch im Himalaya, legt sie 1931 die zeitlichen Gelübde ab und wird als Lehrerin an eine ordenseigene Schule in Kalkutta geschickt. Dort unterrichtet sie bengalische Mädchen aus besseren Kreisen. Sie erweist sich als hervorragende Lehrerin und steigt zur Rektorin auf. Zwanzig Jahre übt sie diese Tätigkeit aus.
Unmittelbar vor den Klostermauern liegen die Slums: Tausende von Menschen hausen hier; sie erledigen ihre Notdurft im Rinnstein und trinken verunreinigtes Wasser aus Straßenpumpen. Wenn im Sommer die Monsunfluten Teile des Landes überschwemmen, strömen Heerscharen von verzweifelten Menschen in die Stadt.

Was die Rektorin jenseits der schützenden Klostermauern mit ansehen muss, nagt in ihr: die Bettler, die ausgemergelten und kranken Menschen, die unerwünschten Kinder, die ausgesetzt und schlicht auf dem Müll entsorgt werden. Da passiert etwas, worüber die Rektorin später nur sehr selten sprechen wird. Ganz deutlich glaubt sie die Worte Jesu zu hören: „I thirst“ - Mich dürstet. Sofort erkennt sie den Sinn dieser Botschaft. „Ich sollte das Kloster verlassen und den Armen helfen, indem ich unter ihnen lebte. Ich hörte den Ruf, alles aufzugeben und Christus in den Slums zu folgen, um ihm unter den Ärmsten der Armen zu dienen. Ich wusste, es war sein Wille, und ich musste ihm folgen.“

Sie bat um Erlaubnis, den Loreto Orden zu verlassen, wählte als Ordenskleid den weißen Sari mit der blauen Borte. die Kleidung der Armen, und begann ihre Arbeit, die sie bis ins hohe Alter ausfüllen sollte: Sie pflegte Kranke, begleitete Sterbende, sie kümmerte sich um Findelkinder, um die Ausgeschlossenen und die an den Rand Gedrängten. Sie gründete einen neuen Orden, die Gemeinschaft der Missionarinnen der Nächstenliebe.
Immer mehr Frauen schlossen sich der neuen Gemeinschaft an, die sich bald über Indien hinaus auf der ganzen Welt ausbreiten – und das Werk von „Mutter Teresa“ fortsetzen.
Liebe Leser, aus den beiden Lebensgeschichten in ganz unterschiedlichen Zeiten nehme ich ganz ähnliche Lektionen für eine tiefgreifende religiöse Erfahrung mit, einen Dreischritt: Geh raus! Geh in dich! Geh zu anderen!

1. Geh raus! Lass dich von deinem Lebensumfeld nicht gefangen nehmen. Mach die Augen auf! Schau, was vor deiner Haustür passiert! Hab den Mut, auch einmal auszubrechen. In andere Milieus. Vielleicht liegt der Anspruch Gottes für dich gerade dort.

2. Geh in dich! Was du gesehen hast, lass in dir wirken. Lass die Bilder in dir nagen. Denk drüber nach! Lass dich berühren, wie Buddha. Stuf dich selbst richtig ein. Nimm dich nicht zu wichtig. Vielleicht lebst du dann leichter.

3. Geh zu anderen! Machs wie Mutter Teresa. Pack an, wo du gebraucht wirst. Vielleicht wird das zur Erfüllung deines Lebens. Es ist nie zu spät.

Fürbitten

Der heutige Weltmissionssonntag richtet unseren Blick auf Indien, auf ein Land tiefer Religiosität und großer Gegensätze. Auf das Land, in dem Buddha gelebt und eine Mutter Teresa gewirkt haben. Gott, wir bitten dich:

Wir beten für die verschiedenen Kulturen und Religionen,
die in Indien zusammenleben:
Um gegenseitigen Respekt voreinender und den Willen, voneinander zu lernen

Wir beten für alle Menschen, die in diesem Land
in der Versenkung in die Meditation
den Weg zu dir suchen:
Um einen tiefen inneren Frieden

Wir beten für alle,
die in ihrer Armut und ausweglosen Lage keine Stimme haben und sich dreingeben in Gottes Willen:
Um Kraft aus dem Glauben

Wir beten für alle,
die aktiv gegen Armut und Unterdrückung kämpfen
und sich für eine gerechtere Gesellschaft einsetzen:
Um einen langen Atem,
um Solidarität untereinander
und Gehör in der Weltöffentlichkeit

Wir beten für die Schwestern von Mutter Teresa,
die Missionarinnen der Nächstenliebe,
die ihren Platz in vielen Ländern der Erde
bei den Ärmsten der Armen sehen:
Um die Fähigkeit, Armen und Verachteten durch ihre Zuwendung deine Nähe spüren zu lassen

Wir beten für alle, die heute sterben müssen.
Für die. die unbeachtet auf der Straße
oder einsam in ihren Zimmern sterben müssen
und für alle, die umsorgt und begleitet daheim
oder in Hospizen den letzten Weg gehen:
Um dein inneres Licht

Darum bitten wir dich heute durch Christus, unsern Herrn

Zum Friedensgruß

Von Mutter Teresa sind die Worte überliefert:

Die Frucht der Stille ist das Gebet.
Die Frucht des Gebetes ist der Glaube.
Die Frucht des Glaubens ist die Liebe.
Die Frucht der Liebe ist das Dienen.
Die Frucht des Dienens ist der Friede.


Pfarrer Stefan Mai

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