Der zerteilte Rosenkranz

Predigt zum Rosenkranzfest 2010 in Gerolzhofen

In der Zeit der religiösen Unterdrückung und Verfolgung in der Sowjetunion hielt eine Gruppe von gläubigen Studentinnen im Untergrund wie Pech und Schwefel zusammen. Immer wieder trafen sie sich im Geheimen, um miteinander zu beten, um einander im Glauben zu stärken. Da wurde die Studentinnenführerin verhaftet und zu Gefängnis verurteilt. Bevor sie ins Gefängnis ging, kam sie nochmals mit ihren Freundinnen zusammen. Sie nahm ihren Rosenkranz und gab jeder der Mitstudentinnen eine Perle des Rosenkranzes. Sie selbst behielt das Kreuz. Denn zu ihm, den Gekreuzigten, wollte sie sich in der kommenden schweren Zeit bekennen. Und die Mitstudentinnen sollten ihr dabei helfen, sie wollte mit ihnen sich im Gebet verbunden fühlen.
Aber die Führerin hielt dem Druck und den Verhörungen durch die Geheimpolizei nicht stand. Sie wurde schwach und verleugnete ihren Glauben.
Da trafen sich die anderen Studentinnen wieder an einem geheimen Ort. Sie knüpften den zerteilten Rosenkranz wieder zusammen und ließen ihn auf Schleichwegen zu ihrer Führerin ins Gefängnis bringen.
Diese war tief gerührt. Das Bewusstsein, dass die Mitstudentinnen sich nach wie vor an sie gebunden fühlten; die Erfahrung, da halten Menschen auch in Schwierigkeiten zusammen und zu mir, das machte sie wieder stark. Sie bekannte sich neu zum Glauben und zu dem, dem sie in ihrem Leiden nahe war.

Ein zerteilter Rosenkranz - als Symbol der Zusammengehörigkeit, als Zeichen: Wir denken aneinander und bleiben im Gebet miteinander verbunden.

Liebe Leser, ich weiß um die heutigen Schwierigkeiten mit dem Rosenkranzgebet. Ich kenne die Vorbehalte gegen diese alte Gebetsform unserer Volksfrömmigkeit: „Die leiern doch nur gebetsmühlenartig die vielen ‚Gegrüßet seist du Maria’ herunter! Was soll das, eine halbe Stunde immer nur das gleiche Gebet? Stinklangweilig! Und denken tun die frommen Betschwestern doch gar nichts dabei!“
Ja, das Rosenkranzgebet ist schon lange nicht mehr in. Kaum einer, der unter 60 ist, bringt die Gesätzchen eines schmerzhaften oder freudenreichen Rosenkranzes noch zusammen. Und wer kennt schon noch den Aufbau dieses Gebetes? Es ist doch sehr verräterisch, wenn es in einer Pfarrgemeinde, die den Namen „Maria vom Rosenkranz“ führt und das Rosenkranzfest als Patrozinium feiert, schon lange keine Gruppe mehr gibt, die zusammen in der Rosenkranzkirche den Rosenkranz betet. Sicherlich: der eine oder die andere pflegt diese Gebetsform noch daheim, vor allem Menschen, die viel allein sind und oft nicht mehr am aktiven Leben teilnehmen können, aber ansonsten ist diese Gebetsform, die früheren Generationen in guten und bösen Tagen Halt war und Kraft gab, vom Aussterben bedroht.

Ich frage mich, wie könnten vielleicht Menschen von heute wieder neuen Zugang zu diesem alten Gebetsschatz finden, ihn wieder als Kraftquelle im Leben entdecken?
Ich denke, dies ist nur möglich, wenn sie heute eine ähnliche Erfahrung machen würden, wie diese russische Studentinnengruppe. Wenn Menschen spüren könnten: Der Rosenkranz ist eine einfache Gebetsform, wo ich mich mit dem anderen verbinden kann und beim Murmeln eines Gesätzchens mit zehn „Gegrüßet seist du Maria“ fünf Minuten lang im Gebet bei einem Menschen sein kann.
Ich muss zugeben, auch ich gehöre nicht zu den täglichen Rosenkranzbetern. Aber auf meinem Nachtkästchen liegt immer ein kleiner Zehner-Rosenkranz. So manches Mal nehme ich ihn todmüde in die Hand oder greife zu ihm, wenn ich nachts aufwache. Ich lasse dann die zehn Perlen durch meine Finger gleiten und denke bei jeder Perle beim Beten an einen Menschen, der mir viel bedeutet, der mir heute begegnet ist, von dem ich weiß, dass er Schweres zu tragen hat oder der mich um ein Gebetsgedenken gebeten hat.
Stellen Sie sich einmal vor: Es gäbe bei uns eine Gruppe von Menschen, die machen miteinander aus: Abends nach der Tagesschau nimmt jeder von uns seinen Rosenkranz, betet ein Gesätzchen und denkt dabei an die anderen. Glauben Sie nicht, dass so etwas kleines, ganz im unscheinbaren, das Gesicht einer Pfarrgemeinde verändern könnte?
Oder stellen Sie sich vor: Eine Mutter würde ihrer Tochter, die zum Studium weggeht, sagen: Du, jeden Abend, wenn ich ins Bett gehe, bete ich ein Gesätzchen Rosenkranz und denk dabei an dich. Glauben Sie etwa, dass die Tochter über ihre Mutter lachen würde?


Pfarrer Stefan Mai

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