„Hab ich jut jemacht?“

Predigt zum Familiengottesdienst in Gerolzhofen zum Erntedankfest (Lesung: Gen 1,1-2,4a)

Die Bücher über positives Denken wären nicht so in, wenn das negative Denken in unserer Gesellschaft nicht so stark wäre.
Wenn ich in die Politik schaue, so wird andauernd nur am anderen herumkritisiert, der eine andere politische Farbe hat. Es ist direkt ein Lieblingssport - natürlich nur im Namen der Demokratie - einen Vorschlag, der zur Lösung eines Problems gemacht wird, sofort in der Luft zu zerreißen.
Da hat kaum ein Vorschlag eine Chance, auch wenn er noch von so viel Hirnen und in unendlichen Sitzungen ausgerungen wurde, einmal Lob zu ernten.

Und am Ende geht es uns selbst so: Die Fehler fallen einem am anderen immer eher auf als das, worum er sich ehrlich bemüht, als das, was er an Gutem in das Leben einbringen möchte.

Und doch wissen wir, wie sehr wir uns danach sehnen, dass gewürdigt wird, worum ich mich bemühe und wofür ich Kräfte einsetze. Dass mir einmal gesagt wird: „Das hast du gut gemacht!“

Mir bleibt ewig aus meiner Kaplanszeit in Aschaffenburg die norddeutsche alte Frau aus dem Matthias Claudius-Altenheim in Erinnerung. Wenn ich ihr freitags die Krankenkommunion brachte, war sie immer ganz aufgeregt, weil sie spürte, ihre angehende Demenz beschert ihr immer öfter plötzliche Blackouts. Und so fragte sie jedes Mal, nachdem wir langsam das Vaterunser gebetet hatten, immer das Gleiche: „Hab ich jut jemacht?“ Sie wollte von mir immer neu diesen Satz hören: „Es war gut!“ Dann strahlte sie, jubelte, fiel mir um den Hals und gab mir Küsschen über Küsschen. So wichtig war es ihr, dieses Sätzchen zu hören: „Es war gut!“

Mich macht es nachdenklich: Dieser Satz „Und siehe, es war gut!“ begegnet uns auf den ersten Seiten der Bibel in der Schöpfungsgeschichte, die uns heute in so ansprechender Weise mit verschiedenen Gongs so eindrücklich zu Gehör gebracht wurde, nach jedem Schöpfungstag. Am letzten Schöpfungstag heißt es sogar: „Und siehe, es war sehr gut!“
„Und siehe, es war gut“, und: „Siehe, es war sehr gut!“ Das macht mich nachdenklich und rührt mich direkt an: Die erste Seite der Bibel lädt zu einem positiven Denken ein: Gott macht es selbst vor.

An jedem Erntedankfest liegen die Gaben der Schöpfung vor uns. Und mir kommt es vor, als wollten diese Erntegaben uns jedes Jahr einladen, dieses positive Denken nicht zu verlernen und ganz bewusst zu üben: „Und siehe, es war gut!“ Die Weisheit des Erntedankfestes ist für mich die Einladung, diese Sehschule des Guten zu pflegen, so wie es von dem alten Mann mit den Bohnen erzählt wird:

Ein alter Mann wurde gefragt, warum er sich einer besten Gesundheit erfreue, er so zufrieden und fröhlich sei: Da erzählte er nach kurzem Zögern von einer alten Gewohnheit. Er verließ sein Haus nie, ohne eine Handvoll Bohnen in seine Tasche zu stecken. Das tat er nicht etwa, um sie zu kauen, sondern um die schönen Momente des Tages bewusster wahrzunehmen und sie besser zählen zu können.
Für jede noch so kleine Situation, die ihn erfreute, ließ er eine Bohne von der rechten in die linke Tasche wandern. Das waren zum Beispiel: Ein freundliches Guten Morgen von der unbekannten Sitznachbarin im Zug. Die spannende Diskussion mit seinem Neffen über den Sinn der Hausaufgaben. Ein besonders schön gelungenes Stück seiner Schreinerarbeiten. Das herzhafte Lachen seiner Frau. Der Schattenplatz in der Mittagshitze …
Abends legte er die Bohnen seiner linken Tasche vor sich hin und zählte sie. Er führte sich dabei jede einzelne Situation noch einmal vor seine inneren Augen, freute sich, genoss sie ausführlich und nahm sie tief in sich auf. Zum Schluss meinte er: Diese unzähligen Freuden hätten ihm Kraft gegeben, auch all die schwierigen und schweren Stunden seines Lebens durchzustehen, daraus zu lernen – und sie dann loszulassen.


Pfarrer Stefan Mai

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