Wer hat einen Namen?

Predigt zum 26. Sonntag im Jahreskreis

„Der reiche Mann und der arme Lazarus“ - so nennen wir die heutige Evangeliumsgeschichte und denken uns nicht viel dabei. Doch schon allein diese Überschrift ist ein Programm oder noch besser gesagt das umgekehrte Programm, das bei uns geläufig ist.
Denn wer hat denn in unserer Gesellschaft eigentlich einen „Namen“? Das sind doch die Reichen und die Schönen, die Berühmten und die Wichtigen. Das sind die, die in der Öffentlichkeit vorne dran stehen. Das sind die schwer verdienenden Fußballer, die Filmsternchen. Sie finden ihr Foto in der Zeitung, großer Medienrummel um sie. Und was da alles so interessant ist: Was sie anhaben, welche Frisur sie tragen, was die Garderobe kostet oder was sie gerne essen.
Die Armen dagegen haben bei uns keinen Namen: Das sind die Hartz-IV-Empfänger, die Arbeitslosen, die Behinderten, die Analphabeten. Ihr Name steht, wenn es hoch kommt, nur einmal in der Zeitung, und das ist in der Todesanzeige oder ganz klein in der Totentafel.

Auffallend an unserer biblischen Geschichte ist: Da hat ausgerechnet der arme Mann einen Namen: Lazarus. Während der Reiche nur ein Exemplar seiner Gattung bleibt, ein Reicher halt. Sein Name interessiert nicht!
Unsere Geschichte ist an dem Mann vor der Tür interessiert, der keine Kraft mehr hat, auf eigenen Füßen zu stehen, dessen Wunden eitern und zu dem kein Arzt kommt - und dessen einzige Freunde die Straßenköter sind, die seine Wunden lecken. Er lebt vom Müll der Reichen, wird von niemandem gebraucht und von keinem vermisst, als man seine Leiche vor der Tür des Reichen wegräumt. Aber im Evangelium hat er einen Namen!

Und für ihn wird Partei ergriffen. Als der Reiche stirbt und Lazarus in Abrahams Schoß sieht, da will der Reiche noch von der Hölle aus Lazarus für ihn springen lassen. Er fordert noch im Jenseits die Dienstleistung des Armen. Die Zunge soll er ihm netzen. Abraham soll ihn herunterschicken zu ihm. Noch im Jenseits ist Lazarus es nicht wert, dass der Reiche mit ihm direkt spricht. Der Reiche kommuniziert nur mit Urvater Abraham und möchte über ihn verhandeln. Doch Abraham tritt wie ein mächtiger Anwalt für den armen Lazarus auf, stellt sich schützend vor ihn, sagt klipp und klar: Jetzt verdient Lazarus das Augenmerk, nicht du! Die Kluft zwischen Arm und Reich, die im irdischen Leben überwindbar gewesen wäre, ist nun nicht mehr überwindbar. Und er lässt den Reichen abblitzen.

Abraham geht auch nicht auf den Reichen ein, als der zum ersten Mal nicht nur an sich, sondern an andere denkt: Schick doch den Lazarus dann wenigstens zu meinen Brüdern. Er soll sie warnen. Er soll ihnen ausrichten, dass sie in ihrem Leben einen Ausgleich schaffen sollen zwischen denen mit Namen und den Namenlosen. Nein, ist die Antwort. Im Himmel wird kein Armer mehr für die Leute mit Namen springen müssen.

Liebe Leser,
mit dieser Geschichte vom Reichen und dem armen Lazarus stellt der Evangelist Lukas den Hörern und Lesern seines Evangeliums zu allen Zeiten ganz hartnäckig diese Frage:
Haben die Armen unter euch einen Namen?
Gebt Ihr ihnen Eure Stimme?


Pfarrer Stefan Mai

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