Welche Rolle würden Sie wählen?

Predigt zum 15. Sonntag im Jahreskreis (Lk 10,25-37)

Predigt

In der Bibelarbeit gibt es viele Methoden, um den Texten besser auf die Spur zu kommen, sie besser zu verstehen und mit dem eigenen Leben in Verbindung zu bringen. Einer dieser Methoden ist das Bibliodrama. Nach dem Lesen des Textes sollen sich die Teilnehmer in die verschiedenen Rollen, die in der biblischen Erzählung vorkommen, einfühlen und sich dann eine Rolle aussuchen, die sie anspricht und zu Herzen geht. Dann wird die Geschichte gespielt und über die Erfahrungen, die jeder Spieler mit seiner Rolle macht, gesprochen. Und vielen geht dabei nicht nur eine Licht über die Bibelgeschichte auf, sondern auch über sich selbst.

Auf einer Fortbildungsveranstaltung sollten sich einmal Frauen und Männer, die schon über zehn Jahren in der Seelsorge gearbeitet hatten, in Jesu Geschichte vom barmherzigen Samariter einfühlen. Als Rollen stehen hier der barmherzige Samariter, die Räuber, der Mann, der von Jerusalem nach Jericho hinabgeht, der Priester, der Levit, der Esel und der Gastwirt zur Verfügung. Und sie bekamen die Aufgabe, sich für eine Rolle zu entscheiden. Die Beteiligten waren selbst überrascht, wie viele von ihnen für sich die Rolle des unter die Räuber Gefallenen wählten und wie sehr sie es genossen, Öl und Wein in die Wunden gegossen zu bekommen und umsorgt, verbunden und gepflegt zu werden. Mich wundert es nicht. Denn was die Seelsorger in ihrer gewählten Rolle des Opfers entdeckten, nämlich ihre eigene Bedürftigkeit, das liegt in uns allen als eine große menschliche Sehnsucht vergraben.

Wer möchte nicht wahrgenommen werden und erleben, dass jemand Mitgefühl für ihn zeigt, wenn er tief verletzt wurde oder am Boden ist. Zuwendung erfahren – und nicht mit Gleichgültigkeit gestraft werden. Das ist doch die Sehnsucht, wenn Menschen keine Kraft mehr haben und nicht mehr können.
In solchen Situationen wünschen wir uns doch dann, dass unsere Wunden gesehen werden und dass Menschen mit ihnen umgehen können. Wir sehnen uns dann danach, dass ein gutes Wort eine helfende Hand, ein verlässlicher Beistand wie ein linderndes Öl auf die brennende Lebenswunde ist. Wenn nichts mehr geht und keine Kraft mehr da ist, dann hoffen Menschen doch darauf, dass sie ein Stück mitgetragen werden. Und wie gut ist es zugleich, wenn man dann in seiner Hilflosigkeit spüren kann: Der Helfer verhätschelt mich nicht, nutzt die Situation nicht aus und macht mich von seiner Großzügigkeit nicht abhängig – und erwartet auch nicht ewig Dank dafür. Wie befreiend ist es, dann auf Menschen zu treffen, die sehr sensibel sind und wissen: Der Auftrag des Helfenden ist immer die Freiheit des Hilfsbedürftigen.
Für diese Sehnsüchte steht für mich die Jesuserzählung vom Opfer und seinem Helfer und zeigt mir am Vorbild des Samariters, wie ein Mensch sie erfüllen kann: Der Samariter sieht die Not, lindert die Not, trägt eine Zeit lang den Hilfsbedürftigen mit, gibt ihn dann aber wieder in andere Hände und bindet ihn weder an sich noch möchte er einen ewigen Bewunderer oder Danksager.

Wenn ich die Geschichte vom Samariter einmal so lese ist sie nicht nur ein Aufruf, offene Augen für andere zu haben, zuzupacken, wenn Menschen Hilfe brauchen. Sie ist dann auch ein Klarmachen meiner eigenen Bedürfnisse. Und am Ende glaube ich, dass nur der wirklich helfen kann, der auch zu seinen eigenen Bedürfnissen steht. Denn der Nächste ist genauso wie du.

Fürbitten

Lasst uns beten zu Jesus Christus, dem barmherzigen Samariter:
V: Christus, höre uns. A: Christus, erhöre uns

- Für alle, die in Not geraten sind an Leib und Seele
- Für die Menschen, die anderen Samariterdienste tun und Hilfe leisten, daheim, in Pflegeheimen und Krankenhäusern, auf der Straße
- Für alle, die es mit uns gut meinen und uns Gutes tun
- Für alle, die in Pensionen und Gaststätten Gastfreundschaft gewähren
- Für alle Vertriebenen und Opfer von Krieg und Gewalt
- Für unsere Toten. In diesem Gottesdienst denken wir an...


Pfarrer Stefan Mai

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