Gegen eine Aufspaltung der Gesellschaft

Predigt zum 12. Sonntag im Jahreskreis (Gal 3,26-29)

Einleitung

„Gute Nacht, Deutschland“. So kommentiert ein Leser der Mainpost die Ergebnisse der Studie, die das deutsche Institut für Wirtschaftsforschung veröffentlicht hat. Nach dieser Studie hat sich die Kluft zwischen hohen und niedrigen Einkommen in Deutschland in den letzten Jahren spürbar vergrößert. Arm und Reich driften immer mehr auseinander. Es werden immer mehr Menschen arm und die Reichen werden immer reicher. Verlierer der Umschichtungen in der Einkommensverteilung im letzten Jahrzehnt ist die Mittelschicht mit mittleren Einkommen. Diese Entwicklung macht vielen Sorgen und gefährdet in der Gesellschaft den sozialen Frieden.
Gerade auf dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung gewinnen für mich die Worte der heutigen Lesung aus dem Galaterbrief höchste Aktualität.

Predigt

Ein Dankgebet, das dem griechischen Philosophen Thales aus Milet zugeschrieben wird, lautet:
„Wegen dieser drei Dinge sage ich dem Schicksal Dank:
Erstens, dass ich als Mensch geboren bin und nicht als Tier.
Zweitens, dass ich als Mann geboren bin und nicht als Frau.
Drittens, dass ich als Grieche geboren bin und nicht als Barbar.“


In dieses Umfeld und gesellschaftliche Denkmuster, das von unüberwindbaren Klassen-, Geschlechter und Nationalitätenschranken geprägt war, schrieb der Apostel Paulus seine Zeilen aus dem Galaterbrief:

„Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid einer in Christus Jesus.“ (Gal 3,28)

Revolutionär waren diese Gedanken. Sie propagierten einen neuen Umgangstil mit Sklaven, eine gleichwertige Beziehung zwischen Mann und Frau, eine neue Sicht von Nationalitätsgrenzen. Diese Magna Charta der Freiheit, wie diese paulinischen Gedanken auch genannt werden, war frei von jeder Über- und Unterordnung. Diese Botschaft hatte Sprengkraft und Anziehungskraft.
Bei der Taufe geschieht nach Paulus die Geburt in eine neue Gesellschaft hinein - und in dieser sollen Herkunft, Geschlecht oder Überordnung und Unterordnung keine Rolle mehr spielen.

Man kann es sich gar nicht mehr recht bewusst machen, welchen bleibenden Eindruck die Feier der Taufe bei der frühen Christenheit hinterließ. Die Taufbewerber zogen ihre Kleidung aus, das Zeichen ihres Standes. In einer feierlichen Prozession zogen sie dann nach der Taufe in ihren Taufkleidern vom Taufbecken in die versammelte Gottesdienstgemeinde. Die Lesung spielt auf diese Erfahrung an. Das weiße Taufkleid, das alle trugen, machte bewusst, wie die Taufe die Geburt in eine neue Gesellschaft bewirkte. Diese sollte bestimmt sein von der Gleichheit, in der die bleibenden Schwachstellen unseres Zusammenlebens überwunden werden: die Benachteiligung durch Volkszugehörigkeit, durch das Geschlecht und durch gesellschaftliche Rangunterschiede. Was die Unterschiede zurücktreten ließ, war das Bewusstsein, in diesem Christus eins zu sein.

Manchmal blitzt von diesen Gedanken in der Geschichte noch etwas auf, wie zum Beispiel bei König Ludwig dem Heiligen. Als König von Frankreich unterschrieb er in Privatbriefen nicht mit „Ludwig, König von Frankreich“, sondern immer mit „Ludwig von Poissy“. Poissy war ein kleines Städtchen in der Nähe von Paris. Als man ihn bat, er möge einmal erklären, warum er immer mit dieser Unterschrift „Ludwig von Poissy“ unterschreibe, gab er zur Antwort: „In Poissy bin ich getauft worden. Und diese Würde, ein Christ zu sein, bedeutet mir mehr als die Königswürde.“
Und dieser Gedanke lebt auch noch im Ansatz in jeder versammelten Gottesdienstgemeinde. In Schweinfurt sagte mir einmal ein Mann: „Wissen Sie, was mich immer am meisten im Gottesdienst beeindruckt? Da steht der Aussiedler neben dem Einheimischen, der Jugendliche neben der alten Frau, der gut verdienende Manager neben dem Hartz IV Empfänger, der vor Gesundheit strotzende braungebrannte Mann neben einem, der von der Chemotherapie gezeichnet ist. Und alle singen die gleichen Lieder, sprechen miteinander die gleichen Gebete.“

Ich stimme dem Mann zu und frage mich: Ist uns dieser Reichtum unserer Gottesdienstversammlung überhaupt noch im Bewusstsein?


Pfarrer Stefan Mai

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