Ein Werbespot und eine Werbegeschichte

Predigt zum 10. Sonntag im Jahreskreis (Lk 7,11-17)

Nur 45 Sekunden dauert er und kommt mit einem einzigen Wort aus, das zwei Mal gesprochen wird: der neueste Mercedes-Werbespot für die E-Klasse.
Bei meditativer Musik und trübem Wetter fährt eine schwarze Mercedes-Limousine durch den Winterwald. Der Fahrer schaut umher, ein Blick zum Himmel - dann ein Blick zur Beifahrerseite. Da erschrickt er. Auf dem Beifahrerplatz sitzt Gevatter Tod mit einer Sense in der Hand. Langsam schiebt der Tod die schwarze Kapuze vom Kopf. Mit einem dreckigen Lächeln und kahlem Schädel wendet er sich dem Fahrer zu, spitzt die Lippen und sagt nur ein Wort: „Sorry“. In der Vorahnung, was jetzt passiert, reibt er sich schon die Hände. Und plötzlich erscheint im Nebel vor dem Mercedes ein Sattelzug, der mitten auf der Straße steht und Baumstämme verlädt. Der Fahrer steigt voll auf die Bremse, die Reifen quietschen und direkt vor der Windschutzscheibe schwankt noch todesbedrohend ein Baumstamm. Heftig schnauft der Fahrer vor Schreck - und wie er den Schock verdaut hat, grinst er zum Tod hinüber, verkneift die Augen und meint ebenfalls ironisch lächelnd: „Sorry“. Und das Gesicht von Gevatter Tod erstarrt. Über dem schwarzen Mercedes funkelt symbolisch der Mercedes-Stern und es ist zu lesen: Erkennt die Gefahren und verstärkt die Bremskraft. Der neue Bremsassistent BAS Plus.
Jetzt die E-Klasse Probe fahren.
Einfach gekonnt, dieser Werbespot mit diesem einen Wort „Sorry“ - Tut mir leid - der einem das Gefühl vermitteln will: Mit diesem neuen Mercedes kann dir nichts passieren.

Gestern Abend sah ich diesen Werbespot nach den Nachrichten vor der Wettervorhersage. Und da schoss es mir durch den Kopf: Das gleiche Wort „sorry“ - es tut mir leid - hat auch in der heutigen Evangelienerzählung eine zentrale Bedeutung. Aber in welch anderem Sinn!
Da wird erzählt: Wie Jesus den Leichenzug aus dem Dorf herauskommen sieht, hält er an. Denn neben dem Sarg sieht er eine verzweifelnde, weinende Frau. Sie hat als Witwe nun auch ihren einzigen Sohn verloren, ist ganz allein. Für diese Frau ist die ganze Welt zusammengekracht. Die Frau tut Jesus leid und er bekommt Mitleid. Wörtlich aus dem Griechischen übersetzt: Es packt ihn in der Magengegend. Lukas verwendet hier das gleiche Wort, das er auch benutzt, als der Samariter den zusammengeschlagenen Mann auf der Straße nach Jericho liegen sieht. Jesus hat das gleiche tiefe Gefühl „Mitleid“ wie der Vater im Gleichnis, der auf seinen verlorenen Sohn zuläuft, um ihn zu umarmen. Wie der Samariter, wie der Vater kann Jesus nicht anders, als diesem Gefühl „Mitleid“ zu folgen. Er kann nicht mit ansehen, wie diese Frau leidet. Und darum geht er auf diese Frau zu - und die Geschichte nimmt eine unerwartete Wende.

Liebe Leser, die Wundergeschichten des Neuen Testaments waren ebenso Werbegeschichten, Werbespots für die christliche Idee und die junge Bewegung der Christen. Aber wir spüren, da wird nicht mit dem Wort „sorry“ gespielt, sondern das Wort „beim Wort“ genommen. Die Erzählung vom Mitleid Jesu mit der an ihrem Schicksal verzweifelnden Witwe, die Worte: „Als Jesus die Frau sah, hatte er Mitleid mit ihr“ werben für eine Lebenskultur, die nicht einfach die Jalousien dicht macht, wenn es um andere geht. Mit diesen Worten wirbt die Geschichte für offene Augen, was um uns herum passiert, und die Bereitschaft, sich von der Not von Menschen um mich herum betreffen zu lassen.
Und das scheint mir klar zu sein: Bis heute sind solche Menschen, die diese Lebenskultur der offenen Augen und des ungespielten Mitleids pflegen, die besten Werbeträger der christlichen Idee.


Pfarrer Stefan Mai

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