Ein kleines Pfingsten vor Haydns Haus

Predigt zum Pfingstsonntag 2010 (Apg 2,1-10)

Das ist schon erstaunlich, was damals in Jerusalem passiert ist. In einer messianisch aufgeladenen Zeit, in einem unterdrückten Land, in dem man gehofft hat, dass eines Tages einer kommt und die heidnischen Römer aus Israel hinauswirft, da ereignet sich etwas völlig Unerwartetes. Da tummeln sich am Pfingstfest in den Straßen Jerusalems Leute aus allen Herren Länder: Parther, Meder, Elamiter, Bewohner von Mesopotamien, Asiaten, Leute aus Ägypten und Lybien, Kreter und Araber und die verhassten römischen Besatzer – und alle verstehen sich. Keine Beschimpfung, keine Beleidigung, keine Auseinandersetzung zwischen den Bevölkerungsgruppen. Statt Ausgrenzung Entgrenzung. Statt Aufreißen von Gräben werden Brücken der Verständigung gebaut. Eine wahre Völkerzusammenführung.
Und der Evangelist Lukas ist überzeugt: Diese neue Völkerverständigung, dieser Aufbruch zu neuer Mitmenschlichkeit ist das Werk des Heiligen Geistes.

Die Ausgießung des heiligen Geistes an jenem denkwürdigen Pfingsttag in Jerusalem war ein einmaliges Ereignis. Doch der heilige Geist beschränkt sein Wirken nicht auf die Apostel. Der göttliche Geist ist es doch, der zu jeder Stunde, in jedem Winkel der Welt die Welt beseelen kann und uns Menschen manchmal mit genialen Inspirationen beschenkt.

Wie der göttliche Geist wirkt, lässt sich immer wieder an den Lebensgeschichten einzelner Menschen ablesen. Wie z. B. an der von Joseph Haydn. Er war ein religiöser Mensch. Wenn er mit einer Komposition nicht recht weiterkam und keine Einfälle hatte, betete er gern als gläubiger Katholik den Rosenkranz. Und als man nach der Uraufführung der Schöpfung Papa Haydn, wie Mozart ihn nannte, mit Beifallsstürmen überschüttete, da legte er nur den Finger auf den Mund und deutete mit der Hand nach oben, um zu zeigen, wem er diese grandiosen Einfälle verdankt. Für Haydn waren sie geschenkt: göttliche Inspiration.

Es werden in diesen Tagen genau 201 Jahre, dass sich vor dem Haus des genialen Musikers an den Pfingsttagen ein Pfingstwunder ereignete, wie damals in Jerusalem: Ein Wunder der Völkerverständigung:
Im Frühjahr 1809 belagerte und beschoss Napoleons Armee die Stadt Wien. Vor Haydns Haus explodierte eins der Geschosse und zerschmetterte die Fensterscheiben. Das Licht der Kerzen erlosch; der Diener und die Köchin schlotterten vor Angst. Der 77jährige, altersschwache Haydn beruhigte die Beiden. „Wo Haydn ist, kann euch nichts geschehen.“ Am nächsten Morgen kapitulierte Wien; Napoleons Truppen rückten ein. Haydn ließ sich zum Klavier bringen und spielte diese Musik:

- „Kaiserhymne“ wird auf der Orgel gespielt -

So beginnt Haydns vielleicht populärstes Streichquartett, das „Kaiserquartett“. Die deutsche Nationalhymne hat den ursprünglichen Text „Gott, erhalte Franz, den Kaiser“ abgelöst.
Durch die zerstörten Fenster drang die Musik auf die Straße.
Die Menschen blieben stehen und nahmen die Hüte ab. Eine außergewöhnliche Form patriotischen Widerstands.

Einige Tage danach begehrte ein französischer Offizier Einlass in Haydns Haus. Er wurde jedoch nicht herein gelassen. Zu verhasst waren die Franzosen den Österreichern. Der Offizier blieb hartnäckig, rief, er sei ein Freund und wolle dem Meister seine Reverenz erweisen. Als der Diener endlich doch öffnete, stürmte der Franzose in Haydns Zimmer, stellte sich vor und überraschte Haydn mit der Bitte, etwas aus dem Oratorium „Die Schöpfung“ singen zu dürfen. Im Zivilberuf sei er nämlich Sänger. Der alte Meister ließ sich ans Klavier führen; der französische Hauptmann sang mit schöner Stimme. Wieder blieben die Menschen auf der Straße stehen. Nach dem letzten Ton brach lauter Jubel aus. Der junge Franzose und der alte Mann sanken sich in die Arme. Alle Feindschaft war hinweg gesungen. Haydn weinte vor Rührung – gewissermaßen pfingstliche Tränen.

Am nächsten Morgen war er zu schwach, um aus dem Bett aufzustehen. Ruhig, bei klarem Bewusstsein, gab Joseph Haydn ein reiches Leben in die Hand seines Schöpfers zurück. Man benachrichtigte den französischen Stadtkommandanten. Der gab die Todesnachricht an Napoleon weiter. Dieser war ein großer Verehrer des Komponisten. Er ließ vor Haydns Haus eine Ehrenwache aufziehen. Auch bei der Trauerfeier im Wiener Stephansdom, standen Offiziere der Napoleonischen Armee feierlich und ernst an Haydns Sarg.

Liebe Leser,
jedes Jahr am Pfingstfest hören wir die Geschichte von der großen Völkerverständigung in Jerusalem. Manchmal blitzt dieser Gottesgeist in der Menschheitsgeschichte auf, wo sich Aufbrüche zu neuer Menschlichkeit, neuer Verständigung und neuer Hoffnung ereignet haben, wie damals in Wien , wie beim 2. Vatikanischen Konzil oder beim Gebetstreffen der Weltreligionen in Assisi, wie bei dem Fall der Mauer oder der Vereidigung des ersten farbigen Präsidenten der USA. Gibt das nicht die Hoffnung, auf weitere Einfälle des heiligen Geistes zu hoffen und zu warten?


Pfarrer Stefan Mai

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