Perspektivenwechsel

Predigt zum 7. Sonntag der Osterzeit

Der bekannte Wiesbadener Publizist Gotthard Fuchs erzählt von einem Erlebnis auf dem Weg nach Santiago de Compostella, das ihn tief beeindruckt hat:
In der kleinen Pilgergruppe war ein älterer Mann dabei. Nachdenklich erzählt der Großvater von seinen Kindern und Kindeskindern. Spürbar ist seine Traurigkeit, dass die jungen Leute mit der Kirche nichts mehr am Hut haben. Noch nicht einmal taufen lassen sie ihre Kleinen. Und wie ein Resümee eines langen inneren Suchens kommt es aus ihm heraus: „Wissen Sie, ich habe schon lange aufgehört, mit meinen Kindern über Gott zu reden. Jetzt rede ich mit Gott über meine Kinder.“ (CiG Nr. 20, S. 213)
Der Großvater kam zur Einsicht: Vieles auf dem Lebensweg bleibt dunkel und unerklärbar, vieles ist wunderschön und manches schwer erträglich. Aber alles kann im Gebet an eine Adresse weitergegeben werden. Das ganze Leben - das der anderen wie das eigene - kann ins Gebet genommen werden, im wahrsten Sinn des Wortes.
Sicherlich, der Großvater wünschte so sehr seinen Kindern die guten Erfahrungen mit Kirche, wie er sie kennt. Wie froh wäre er, wenn sie mit ihm teilen könnten, was in seinem Leben einen ungeheuren Wert besitzt. Aber das Große ist: Seine Wünsche fixieren Gott nicht. Er macht Gott nicht zum Erfüller seines Wunschzettels. Und lässt seinen Kindern die Freiheit, im Vertrauen, dass Gott auch in ihrem Leben dabei ist.

Seit alter Tradition sind in unserer Kirche die Tage von Christi Himmelfahrt bis Pfingsten eine besondere Zeit des Gebets. Und in Gerolzhofen fällt morgen der Tag der ewigen Anbetung genau in diese Zeit. In der Dramaturgie des Kirchenjahres sind die neun Tage vor Pfingsten - Pfingstnovene genannt - vom Wissen geprägt, dass wir Menschen in vielen Situationen des Lebens aus eigener Kraft nicht weiterwissen und weiterkommen, dass wir seine Kraft, seinen Beistand von oben brauchen. Eindrucksvoll flehen unsere hl. Geist-Lieder darum.

Auf dem ökumenischen Kirchentag in München werden die vielen Ratlosigkeiten unserer Kirche deutlich in Worte gebracht: Wie können Wege gefunden werden, die die Einheit der Kirche wirklich weiterbringen? Wie kann Kirche bei dem bis in die Grundfeste erschütternden Vertrauensbruch angesichts des Missbrauchsskandals wieder neues Vertrauen in Kirche wachsen? Wie muss sich Kirche verändern, um den Anschluss an unsere Zeit nicht völlig zu verlieren – und ohne den Modeströmungen hinterherzuhecheln?
Und wenn Sie in Ihr eigenes Leben schauen: Auch da gibt es in manchen Punkten Ohnmacht, Ratlosigkeit, Hilflosigkeit - trotz großer Anstrengungen, vielen Überlegungen und guten Willens.
Die Tage vor Pfingsten laden uns ein, gerade dies ins Gebet zu nehmen und im Gebet an Gott zu adressieren. Vielleicht dürfen auch wir dann die Kraft von oben in unserem Leben spüren, nicht nur, wenn unsere Herzensanliegen in Erfüllung gehen, sondern auch, wenn wir zuversichtlich unseren Weg gehen können, trotz mancher ungelösten Fragen.


Pfarrer Stefan Mai

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