Opa Henri sucht das Glück

Predigt zum Weißen Sonntag 2010

Seit dem Film „Die Comedian Harmonists“, der vom Schicksal des berühmten Männerqintetts während der Nazizeit erzählt, ist vielen ihr Lied von der Suche nach dem Glück im Ohr.

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Irgendwo auf der Welt gibt's ein kleines bisschen Glück
und ich träum davon in jedem Augenblick.
Irgendwo auf der Welt gibt's ein bisschen Seligkeit
und ich träum davon schon lange, lange Zeit.
Wenn ich wüsst, wo das ist, ging ich in die Welt hinein,
denn ich möcht' einmal recht so von Herzen glücklich sein.
Irgendwo auf der Welt fängt mein Weg zum Himmel an,
irgendwo, irgendwie, irgendwann.


Niemals würde dieses Lied uns so spontan ansprechen, wenn nicht auch in jedem von uns die Sehnsucht nach Glück tief drinnen stecken würde.

„Sag mal Opa, was ist Glück?“ Mit dieser Frage überrascht Emil seinen Großvater. Und Opa Henri sucht überall nach einer Antwort auf Emils Frage: am Nachthimmel, in der Stadtbibliothek, in der Glücksstraße, und im Park. Überall entdeckt er Orte des Glücks: Er sieht verliebte Paare, vor Freude über hitzefrei johlende Kinder, Mütter, die stolz auf ihre Kinder sind, eine alte Frau, die mit ihrem Dackel unterwegs ist und Opa Henri nett anlächelt, Leute, denen die Arbeit Spaß macht. Und wie ein großer Dichter fasst er seine Suche nach dem Glück in die Worte: „Glück ist für jeden etwas anderes und für alle dasselbe. Es kann klein oder groß sein, herzlich lachen oder bellen. Es hat ganz verschiedene Namen. Du kannst es hier und dort, überall und nirgends finden. Du kannst es direkt vor der Nase haben und doch so blind auf beiden Augen sein, dass du es nicht siehst und daran vorbeiläufst.“


Und über Nacht dämmert es Emil, was für ihn das größte Glück ist. Am Morgen rennt er in die Küche, gibt seiner Mama einen großen Schmatz und springt seinem Opa in die Arme und meint: „Was haben wir doch für ein großes Glück, zusammen zu sein.“

Liebe Kinder, ich stelle mir vor, das schöne Kinderbuch würde hier nicht enden, sondern am nächsten Abend würde Emil seinem Opa Henri eine noch schwierigere Frage stellen. Die Frage: „Sag mal Opa, wo ist denn Gott zu finden?“ Und Opa Henri würde erneut auf die Suche gehen.
Er geht wieder zum Park und beobachtet die jungen Mütter, die ihren Kindern beim Spielen zusehen, verliebte Paare, die glücklich Hand in Hand spazieren gehen, eine alte Frau, die ihren Hund auf der Parkbank neben sich hat und ihn sanft streichelt. Und Opa Henri dämmert es: Wo Menschen ein bisschen Glück spüren, da ist auch Gott zu finden.

Danach macht er sich auf den Weg zur Kirche mitten in der Stadt. Als er neulich mit Emil an ihr vorbeiging, fragte der Kleine ihn: „Opa, wer wohnt denn in diesem großen Haus?“ „Der liebe Gott“, gab er Emil zur Antwort.
Er macht das große Portal auf. Eine angenehme Kühle kommt auf ihn zu. Es riecht noch ein bisschen nach Weihrauch. Er geht nach vorn und hört den Hall seiner Schritte. Hinten fällt die Tür zu. Und es ist ganz still. Er setzt sich in die Bank. Vom Autolärm fast nichts mehr zu hören. Und er denkt sich: Die Kirchtürme weisen zwar wie zwei große Zeigefinger in den Himmel, aber Gott versteckt sich hier in der Stille.
Auf der Bank liegt ein Gesangbuch. Er nimmt es in die Hand, schlägt es auf und da fällt sein Blick auf ein Lied. Es trägt die Nummer 258 und heißt „Lobe den Herren“. Und er liest: „Lobe den Herren, der künstlich und fein dich bereitet, der dir Gesundheit verliehen, dich freundlich geleitet. In wieviel Not hat nicht der gnädige Gott über dir Flügel gebreitet.“ „Ja, das Lied hat recht“, denkt er sich. „Mit 68 Jahren noch gesund und fit zu sein, das ist nicht selbstverständlich. Viel Gutes und Schönes hab ich erlebt. Ich war begabt, hatte einen Beruf, der mir Freude machte und mein größtes Geschenk war meine Frau. Ihre Krebserkrankung war eine schwere Zeit, und noch schwerer die Zeit nach ihrem Tod. Aber auch da hab ich gespürt: Da breitet einer Flügel über mich.“ Und Opa Henri steigen Bilder auf, wie er in dieser Kirche mit vielen Menschen das Requiem für seine Frau gefeiert hat. „Ja“, sagt er sich, „in dieser Kirche hab ich die großen glücklichen Stunden, meine Hochzeit, die Taufe meiner Tochter und von Emil gefeiert, aber auch die schwere Stunde des Abschieds von meiner Frau.“
Langsam schließt er wieder das Buch und schaut nach vorne, wo eine Reihe kleiner roter Lichter flackern. Opa Henri zieht es jetzt einfach dorthin, zur Figur einer schönen, lächelnden Madonna. Er nimmt drei Lichter und entzündet sie. Er stell die ersten beiden auf den Ständer und betet leise: „Gott segne meine Tochter, die ihren Emil allein großzieht und viel Kraft braucht. Segne Emil und lass mich für die beiden noch eine Zeit da sein.“ Und beim dritten Kerzchen murmelt er: „Und meiner lieben Frau leuchte das ewige Licht.“ Er bleibt noch ein wenig in Gedanken versunken stehen. Und verlässt mit langsamen Schritten die Kirche. „Ja, diese Kirche ist ein geheimnisvoller Ort, wo die Menschen von Gott etwas spüren können,“ denkt er sich bevor er durch die schwere Tür wieder nach draußen geht. „Davon muss ich Emil morgen erzählen.“

Nach der Stille der Kirche empfindet Opa Henri den Lärm draußen noch stärker. Doch in sich trägt er eine tiefe Ruhe. Freundlich grüßt er die Leute. Manche, die durch die Straßen hetzen, erschrecken direkt bei seinem Gruß. Andere grüßen dankbar und lächelnd zurück. „Grüß Gott“, kommt es Opa Henri in den Sinn, heißt doch: „Durch mich grüßt dich Gott!“ Gott ist also auch in mir zu entdecken und strahlt durch mich auf andere aus.
Am Abend bei seinem Kamillentee geht Opa Henri noch einmal den Tag seiner Gottsuche durch und überlegt, wie er am nächsten Tag seinem Enkel davon erzählt. Vor dem Schlafengehen geht er noch einmal zum Bücherschrank und sucht nach der Bibel. Schon lange hat er nicht mehr darin gelesen. Er schlägt sie blind auf und da fällt sein Blick auf die Worte in der Bergpredigt: „Wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz!“ Dass sein Emil und seine Tochter ein wertvoller Schatz sind, das hat Opa Henri schon immer gespürt. Dass auch der Glaube an Gott ein großer Schatz ist, das ist ihm seit der Frage von Emil: „Sag mal Opa, wo kann ich den lieben Gott finden?“ wieder neu aufgegangen.


Pfarrer Stefan Mai

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