Perfectum est

Predigt zum Karfreitag 2010

Wer am Palmsonntag bei der Passionserzählung gut zugehört hat – und auch heute wieder, der kann leicht den Eindruck gewinnen: Da wird das Lebensende Jesu doch total verschieden erzählt. Ganz zu Recht. Denn der tiefsinnige Johannes, dessen Passion wir immer am Karfreitag hören, erzählt das Sterben Jesu ganz anders als Lukas in seinem Evangelium.
Von wegen, dass Jesus in Getsemani Blut schwitzt. Bei Johannes lässt er die Häscher zurückweichen. Mächtig steht Jesus da und bei seinem „Ich bin’s“ fallen die Männer, die ihn ergreifen sollen, um wie die Mücken.
Von wegen, dass der Angeklagte vom Richter in die Mangel genommen wird. Bei Johannes werden die Rollen vertauscht. Der auf der Anklagebank sitzt macht dem Hohenpriester Vorhaltungen und bringt Pilatus völlig durcheinander.
Von wegen, dass einer zu schwach ist, sein eigenes Kreuz zu tragen. Bei Johannes braucht Jesus keinen Simon von Kyrene. Er trägt sein Kreuz selber – bis zum Schluss.
Von wegen: ein armer, gequälter Mensch am Kreuz, der – wie im Markusevangelium – mit einem Verlassenheitsschrei stirbt, der durch Mark und Bein geht oder wie bei Lukas mit einem demütigen Gebet auf den Lippen. Bei Johannes sehen wir einen Herrscher am Kreuz, der letzte Verfügungen trifft und dessen letztes Wort eine stolze Lebensbilanz zieht: Es ist vollbracht. Im Lateinischen heißt es: perfectum est. Es ist perfekt.
Liebe Leser, wer kann das schon von seinem Leben sagen: Es ist perfekt. Es ist rund. Alles in Ordnung. Meistens fühlen wir anders:
Ich möchte gut sein, und doch gelingt mir’s nicht. Mein Gutsein – von wegen perfekt!
Ich habe gute Vorsätze und will sie umsetzen. Doch ich spüre: Wie stümperhaft! Von wegen perfekt!
Ich habe große Versprechungen gemacht, habe mir viel vorgenommen. Und was ist daraus geworden? Von wegen perfekt!
Ich gehe eine Partnerschaft ein, baue an meiner Ehe. Aber das Miteinander gelingt nicht. Es sieht nicht gut aus. Von wegen perfekt!
Wie viele Menschen leiden darunter, nicht perfekt zu sein, ihre Vorhaben nicht abrunden zu können, ihre Träume nicht verwirklicht zu haben, ihre Pläne nicht umsetzen zu können. Und am Ende das schale Gefühl zu haben: alles Stückwerk. Von wegen perfekt.
Aber: Könnten wir nicht von diesem Jesus in der Johannespassion lernen? Auch bei diesem Jesus ging im Leben nicht alles auf: der eine hat ihn verraten, der andere verleugnet, die meisten haben nicht hingehört, ständig wurde ihm Falsches unterstellt. Und trotzdem hören wir ihn am Ende seines Lebens am Kreuz rufen: perfectum est. Es ist perfekt.
Wenn ich das Johannesevangelium richtig verstehe, dann heißt das: Ich lasse mir mein Leben nicht von anderen Menschen beurteilen. Denn sie wissen nichts von meinen inneren Kämpfen, von meinen lauteren Motiven, von meinen Anstrengungen und von meinen Enttäuschungen.
Vom Jesus des Johannesevangeliums möchte ich mir sagen lassen: Wenn du das Gefühl hast: Ich habe alles getan, was in meiner Kraft lag, in meinen Möglichkeiten, dann darf auch ich – trotz manchen Stückwerks – getrost am Ende sagen: perfectum est.


Pfarrer Stefan Mai

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