Jesus und Judas – in jedem von uns

Predigt zum Gründonnerstag 2010

1494. Der Maler Leonardo da Vinci hatte den Auftrag bekommen, das letzte Abendmahl Jesu darzustellen. Es sollte ein großes Wandbild im Speisesaal des Dominikanerklosters Santa Maria delle Grazie in Mailand werden. Modelle musste der Maler nicht lange suchen: Die Mönche des Klosters stellten sich bereitwillig zur Verfügung. Nur für zwei Köpfe gab es – verständlicherweise – keine Freiwilligen. Auf dem sonst fertigen Gemälde blieben zwei weiße Flecke! Für Jesus Modell zu sitzen verbot den Mönchen die Bescheidenheit und der geistliche Anstand. Und für Judas ... Für den gab sich schon gar keiner her!
Also machte sich der Maler außerhalb des Klosters auf die Suche. Ohne ein Modell konnte er nicht auskommen. Er war es gewohnt nach der Natur zu malen. Wochenlang streifte er durch die Straßen und die Parks der Stadt. Hunderte von Gesichtern prüfte er mit dem Blick des Künstlers. Wo waren die feinen Züge des Jesus? Wer strahlte die Liebe und Wärme aus, die der Meister „seinem“ Christus verleihen wollte?
Eines Tages wollte sich Leonardo auf die andere Seite des Flusses übersetzen lassen. Als er in der Fähre saß, fiel sein Auge auf den Fährmann. Ein wunderschöner Jüngling mit ebenmäßigem Gesicht. Mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen trieb er das Boot an. Er schien ganz erfüllt vom Frieden einer in sich gefestigten Persönlichkeit. Der Künstler hatte seinen Jesus gefunden. Der junge Mann willigte auch ein, dem Meister Modell zu sitzen. Als der Christus des Bildes vollendet war, waren Maler und Auftraggeber höchst zufrieden. Der Jüngling erhielt seinen Lohn und zog seiner Wege.
Nun fehlte nur noch der Kopf des Judas. Er sollte die Bosheit des Verrats in seinem Gesicht spiegeln, die Verschlagenheit eines Mannes, der seinen Freund ausliefert, die Verruchtheit eines Menschen, der einen Unschuldigen in den Tod bringt. Leonardo aber fand keinen, der dem entsprochen hätte.
Es vergingen Jahre, in denen Leonardo auf der Suche war. Ohne Erfolg. Eines Abends, der Künstler war wieder auf einem seiner Streifzüge, flog in unmittelbarer Nähe des Meisters eine Tür auf und ein Betrunkener wurde von harten Händen hinausgestoßen. Es war eine finstere Spelunke, in der man diesem Trunkenbold offenbar kein weiteres Glas füllen wollte. Leonardo sprang hinzu, half dem Gestrauchelten auf, der kehrte ihm sein Gesicht zu – und der Meister erkannte in einem Augenblick: Das war Judas! Dieser Mensch war gezeichnet vom Branntwein, hatte verquollene Züge und einen boshaften Blick. Ein elendes Schicksal stand in diesen Augen! Ihm hätte man alles zugetraut. Er wäre fähig gewesen zum Mord, zum Verrat, zur Auslieferung – selbst eines Freundes. Das war Judas.
In den nächsten paar Tagen malte der Meister sein Modell. Er bezahlte ihn in flüssiger Währung, immer wenn der trunksüchtige Mensch nach einem weiteren Glas verlangte. Dabei lallte er stets nur Unverständliches, war auch nicht fähig seine Umgebung oder was mit ihm geschah wahrzunehmen.
Am achten Tag, der Meister war gerade dabei, die letzten Pinselstriche des Porträts zu vollenden, fiel der trübe Blick des unglücklichen Mannes nebenbei auf das Gesicht des Jesus auf dem Wandbild. Im Nu ging eine Veränderung mit ihm vor: In seinen Augen blitzte ein Erkennen auf; er sprang auf, er schien bis ins Innerste getroffen. In einer Aufwallung des Gemüts, die ihm keiner zugetraut hätte, schrie er auf, raufte sich die Haare und rannte aus dem Kloster.
Leonardo dachte zuerst, der trunksüchtige Mensch wäre von der Anmut und Ausstrahlung seines Christus' derartig angerührt worden. Nachforschungen ergaben aber etwas anderes: Der so heruntergekommene Mann war durch verschiedene Schicksalsschläge immer tiefer gesunken. Ursprünglich war er fleißig und zuverlässig in seinem Beruf und hat ein ganz normales Leben geführt. Widrige Umstände, der Tod der Frau, der Verlust der Arbeit und der damit verbundene gesellschaftliche Abstieg hatten ihn an den Alkohol und in die Gosse gebracht. Ein Schankwirt wusste sogar, welchen Beruf der unglückliche Mensch früher gehabt hätte: Er sei Fährmann gewesen.
Da ging Leonardo ein Licht auf: Der Christus des Wandbildes hatte dem Judas sein eigenes früheres Gesicht gezeigt. In wenigen Jahren war aus „Jesus“ ein „Judas“ geworden.
Liebe Leser, Judas hat in der christlichen Tradition eine schlechte Presse. Man rümpft über den „Verräter“ die Nase. Man sieht in ihm den Abgrund von Schlechtigkeit und Hinterlist. Aber die Legende von der Entstehung des berühmten Abendmahlsbildes von Leonardo da Vinci sagt uns: Sei vorsichtig! In jedem von uns kann ein Judas stecken. Niemand weiß, wie schnell widrige Lebensumstände einen tief fallen lassen können: von der Höhe des Jesus bis zum Abgrund des Judas. Und die biblische Tradition hält daran fest: Obwohl Jesus wusste, wer ihn verraten sollte, hat er auch seinem Judas die Füße gewaschen!


Pfarrer Stefan Mai

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