Hoffentlich wartet einer auf mich

Predigt zum 4. Fastensonntag (Lk 15,1-3.11-32)

In der Sendung „Auf ein Wort“, die täglich in Bayern 1 und 3 abends um 21.58 Uhr ausgestrahlt wird, war in der Fastenzeit letzten Jahres folgende Geschichte zu hören:
Der Mann sitzt mir gegenüber im Bummelzug. Bei jeder Station schaut er aus dem Fenster, liest den Ortsnamen und stöhnt. „Tut Ihnen etwas weh?“ frage ich schließlich besorgt. „Sie stöhnen so entsetzlich.“
„Eigentlich antwortet der Mann, „müsste ich aussteigen. Ich fahre dauernd in die falsche Richtung. Aber es ist so schön warm hier drin.“


Im ersten Moment ist man über diese Antwort des Mannes ganz verblüfft. Aber beim weiteren Nachdenken über die Geschichte spüre ich: Es gibt Situationen im Leben, da merken Menschen, dass sie in der falschen Richtung unterwegs sind. Sie spüren: Eigentlich sollte ich aussteigen - aus dem zweifelhaften Geschäft, aus der schlechten Gewohnheit, aus der Hetze, in die ich mich treiben lasse, aus dem Denken „immer mehr-immer mehr“, aus dem Schneckenhaus, in das ich mich zurückziehe, aus der Beziehung, die mir nicht gut tut. Aber da gibt es diesen angenehmen Nebeneffekt, der mich am Ausstieg hindert. Und so bleibe ich weiter, bleibe sitzen im falschen Zug.

Ich frage mich: Warum fällt es uns Menschen so schwer, anzuhalten und umzukehren, selbst wenn ich erkannt habe, ich müsste aussteigen, müsste umkehren, müsste die Richtung ändern, mich wieder neu orientieren. Oder andersherum gefragt: Was hilft, umzukehren und was ermöglicht einen solchen Schritt?

Das raffinierte Gleichnis vom verlorenen Sohn, das Jesus uns erzählt, erzählt von zwei Dingen, die Menschen zur Umkehr bewegen.
Es sagt mir als erstes: Der Mensch kehrt um, wenn er in die Krise gerät. Wenn er spürt, ich kann einfach nicht mehr so weiter machen. Das macht mich kaputt. Die tiefe Krise, in die der jüngere Sohn geraten ist, ist der Beginn der Umkehr. An dem Punkt, wo er ganz tief gefallen ist, kommt der Gedanke an eine Neuausrichtung. Wir würden sagen, als er auf den Hund gekommen ist. Für einen Juden ist es grässlich, bei den Schweinen, den unreinen Tieren ihrer Religion zu sitzen. Tiefer kann man nicht fallen. In dieser Krise geht der verlorene Sohn in sich und kehrt um.
Ich bin mir sicher: Er hätte diesen Schritt nicht geschafft, wenn nicht ein Zweites hinzugekommen wäre, wenn er nicht an einen Menschen geglaubt hätte, der ihm in Liebe entgegenkommt und auf ihn wartet. Er wäre nie umgekehrt, wenn er nicht darauf vertraut hätte, dass einer trotz allem, was er getan hat, auf ihn wartet.
„Hoffentlich wartet einer auf mich“, welche Bedeutung dieser Wunsch haben kann, macht eine zweite Zuggeschichte deutlich, die John Kord Lagemann erzählt:
Einmal saß ich bei einer Bahnfahrt neben einem jungen Mann, dem sichtlich etwas Schweres auf dem Herzen lastete. Schließlich rückte er dann auch damit heraus, dass er ein entlassener Sträfling und jetzt auf der Fahrt nach Hause sei. Seine Verurteilung hatte Schande über seine Angehörigen gebracht, sie hatten ihn nie im Gefängnis besucht und auch nur ganz selten geschrieben. Er hoffte aber trotzdem, dass sie ihm verziehen hatten. Um es ihnen aber leichter zu machen, hatte er ihnen in einem Brief vorgeschlagen, sie sollten ihm ein Zeichen geben, an dem er, wenn der Zug an der kleinen Farm vor der Stadt vorbeifuhr, sofort erkennen können, wie sie zu ihm stünden. Hatten die Seinen ihm verziehen, so sollten sie in dem Apfelbaum an der Strecke ein weißes Band anbringen. Wenn sie ihn aber nicht wieder daheim haben wollten, sollten sie gar nichts tun, dann werde er im Zug bleiben und weiterfahren, weit weg. Gott weiß, wohin. Als der Zug sich seiner Vaterstadt näherte, wurde seine Spannung so groß, dass er es nicht über sich brachte, aus dem Fenster zu schauen. Ein anderer Fahrgast tauschte den Platz mit ihm und versprach, auf den Apfelbaum zu achten. Gleich darauf legte der dem jungen Sträfling die Hand auf den Arm. „Da ist er“, flüsterte er, und Tränen standen ihm plötzlich in den Augen, „alles in Ordnung. Der ganze Baum ist voller weißer Bänder.“ In diesem Augenblick schwand alle Bitternis, die ein Leben vergiftet hatte. „Mir war“, sagte der Mann später, „als hätte ich ein Wunder miterlebt. Und vielleicht war es auch eins.“


Pfarrer Stefan Mai

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