Mit Karl Marx in der Tasche...

Predigt zum 60. Jubiläum der KAB Gerolzhofen am 13. März 2010

Ein großer Kirchenvater hat einmal geschrieben, die Fühllosigkeit sei die Wurzel und der Anfang aller Verfehlungen und Sünden der Menschen. Im Griechischen heißt das Wort „Fühllosigkeit“ Anästhesie, unser Ausdruck für Narkose. Die Fühllosigkeit ist die Wurzel und der Anfang aller Verfehlungen und Sünden der Menschen. Da ist doch was dran: Wo Menschen ihre Umwelt nicht mehr wahrnehmen, wenn der Blick auf das eigene Wohl oder gar nur auf den eigenen Geldbeutel verengt wird, wo die Mentalität sich immer mehr breit macht, Hauptsache mir geht’s gut, wo die Sensibilität für die Sorgen und Nöte von Menschen durch das Kreisen um sich selbst narkotisiert wird, da macht sich mehr und mehr eine Ellenbogen-Gesellschaft breit, bei der sich jeder rücksichtslos durchzusetzen versucht.

Die KAB Bewegung geht auf das Gedankengut eines Mannes zurück, der höchst sensibel war für die Nöte und Bedürfnisse der Menschen seiner Zeit, auf Wilhelm Emmanuel von Ketteler, der 1811 am Weihnachtstag in Münster das Licht der Welt erblickte. Die großen sozialen Reformer unserer Geschichte stammen erstaunlicherweise oft nicht aus Schichten, die die Not hautnah kennen. Ketteler gehörte zu einer Adelsfamilie. Aber unter neun Geschwistern musste er von früh auf Rücksicht und Solidarität einüben. Immer wieder wird er später die Vorzüge eines intakten Familienlebens rühmen.
Als ein Mann, der die materielle Not nicht kannte, wurde er als Kaplan und Pfarrer mit unsäglicher Not der Arbeiterbevölkerung konfrontiert. Gleich nach seiner Einführung als Pfarrer schreibt er die Worte nieder: „Da macht mir jetzt der Leib der mir Anvertrauten noch mehr zu schaffen wie die Seele, und es ist mir eine recht bittere Erfahrung, dabei so wenig helfen zu können." Pfarrer Ketteler hatte eine große Witterungsfähigkeit für soziale Not und ihre Herausforderungen. Er war nie einfach ein distanzierter Beobachter, sondern er ließ sich von der Not anrühren. Dabei blieb es aber nicht, denn er war zugleich ein großes Talent für die rasche Planung und wirksame Organisation von Hilfe vor Ort. Weil Ketteler spürte, dass sich soziale Not nicht nur durch gut gemeinte Almosen beheben lässt, sondern nur wirksam durch Veränderung von sozialen Strukturen in Angriff genommen werden kann, ließ er sich auf Drängen des Volkes zum Vertreter seiner Lebensregion in die Frankfurter Nationalversammlung wählen.
In dieser Zeit sprach er auch bei seinen berühmten sechs Adventspredigten im Mainzer Dom über „Die großen sozialen Fragen der Gegenwart" und schärfte seinen Hörern ein: „Wollen wir die Zeit erkennen, so müssen wir die soziale Frage zu ergründen suchen. Wer sie begreift, erkennt die Gegenwart, wer sie nicht begreift, dem ist die Gegenwart und Zukunft ein Rätsel."

Im Jahr 1850 wurde er zum Bischof vom Mainz ernannt. Der Arbeiter-Pfarrer wurde nun zum Arbeiter-Bischof. Die industrielle Arbeitswelt stellte Aufgaben, für die Staat und Gesellschaft nicht gerüstet waren und die in immer höherem Maß die caritativen Dienste der Kirche forderten: Krankenpflege, Alters- und Invalidenversorgung, Betreuung der Kleinkinder arbeitender Eltern, Schutz der Jugend in Lehrlings- und Mädchenheimen. Die Ordensschwestern verschiedener Gemeinschaften, die Ketteler in das Bistum rief oder sie auch, wie die Schwestern der Göttlichen Vorsehung, gründete, leisteten hier besonders in Schule und Krankenpflege Pionierarbeit. Er hat sich für die Waisenkinder und die gebrechlichen Alten sowie für die entlassenen Strafgefangenen eingesetzt. Aber unermüdlich lag ihm die Fürsorge für die Arbeiter am Herzen. So hat er in die Gewissen aller hineingerufen: „Christus ist nicht nur dadurch der Heiland der Welt, dass er unsere Seelen erlöst hat – er hat auch das Heil für alle anderen Verhältnisse der Menschen, bürgerliche, politische und aoziale gebracht. Er ist insbesondere auch der Erlöser des Arbeiterstandes."

Überzeugt, dass caritative Hilfe allein die soziale Frage nicht lösen kann, betritt er ganz entschieden die Brücke, die von der caritativen Fürsorge zu Sozialreform und Sozialpolitik führt. Hier scheut sich Ketteler auch nicht vor Gesprächen und Anleihen von einzelnen Gedanken bei politisch und weltanschaulich sonst Andersdenkenden, nämlich z. B. bei Ferdinand Lassalle. So verlangt er eine Erhöhung des Arbeitslohns, eine Verkürzung der Arbeitszeit, die Gewährung von Ruhetagen, ein Verbot der Kinderarbeit und die Abschaffung der Arbeit von Müttern und jungen Mädchen in den Fabriken. So hat er auch die Einführung unserer sozialen Sicherungssysteme und die Gesetzgebung zum Arbeiterschutz gefordert und vorbereitet.

Ketteler bleibt ein streitbarer Geist. Freiheit des Denkens und des Geistes ist ihm oberstes Anliegen. Und so kämpft er in Zeiten des Kulturkampfes nach 1870 für die Freiheit der Kirche und verurteilt die Knebelung der Kirche durch den Staat aufs schärfste. Was er vom Staat verlangt, das verlangt Ketteler aber auch von seiner eigenen Kirche. Konsequent verurteilt er Strukturen, wo immer Macht zu hoch und Gewissensfreiheit zu gering angesetzt wird. Und so lehnt er auch entschieden die Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem 1. Vatikanischen Konzil im Jahr 1870 entschieden ab und reist aus Protest vor der Entscheidung der Konzilsväter für die päpstliche Unfehlbarkeit aus Rom ab.
Noch einmal reist Bischof Ketteler nach Rom, 1877, zur Feier des 50. Bischofsjubiläums von Papst Pius IX. Und da stockt mir fast der Atem: Der alte Bischof hat ein Manuskript in der Reisetasche, das Manuskript „Das Kapital“ von Karl Marx.
Als er nach Hause fährt, bekommt er eine schwere Lungenentzündung und stirbt im Kapuzinerkloster von Burghausen bei Altötting. Daheim in Mainz findet man in der Schublade seines Schreibtisches sein Testament: „Außer dem in meinem Schreibtisch befindlichen Geld habe ich kein Vermögen. Ich habe alles zu guten Zwecken verwendet.“

Liebe KAB-Mitglieder, dieser Arbeiterpfarrer und -bischof fasziniert mich. Er hatte den Mut, Grenzgänger zu sein. Grenzgänger zwischen den Schichten, Grenzgänger zwischen Religion und Politik. Grenzgänger zwischen christlichem Gedankengut und modernen geistigen Freiheitsbewegungen, Grenzgänger zwischen Bibel und Marx, Grenzgänger zwischen Loyalität und Kritik gegenüber der eigenen Kirche. Zu diesem Grenzgängertum, das ungeheuer viel Kraft kostet, trieb ihn die soziale Frage und seine Sensibilität für die offenen und versteckten Nöte der Menschen.
Ich glaube, würde Stammvater des Gedankenguts des Werkvolkes und der späteren KAB heute noch leben, er würde mit Betroffenheit und Schmunzeln das Gedicht des Lyrikers Michael Krüger lesen, in dem Karl Marx im Himmel von seinem Verhältnis zu Gott erzählt.
Es lautet:

Marx redet

Manchmal, wenn es im Westen aufklart,
schaue ich den glitzernden Geldflüssen zu,
die schäumend über die Ufer treten
und das eben noch dürre Land überschwemmen.
Mich amüsiert die Diktatur des Geschwätzes,
die sich als Theorie der Gesellschaft
bezahlt macht, wenn ich den Nachrichten
von unten glauben darf. Mir geht es gut.
Manchmal sehe ich Gott. Gut erholt sieht er aus.
Wir sprechen, nicht ohne Witz und dialektisch
erstaunlich versiert, über metaphysische Fragen.
Kürzlich fragte er mich nach der Ausgabe
meiner Gesammelten Werke, weil er sie
angeblich nirgendwo auftreiben konnte.
Nicht daß ich daran glauben will, sagte er,
aber es kann ja nichts schaden.
Ich gab ihm mein Handexemplar, das letzte
der blauen Ausgabe, samt Kommentaren.
Übrigens ist er gebildeter, als ich dachte,
Theologie ödet ihn an, der Dekonstruktion
streut er Sand ins Getriebe, Psychoanalyse
hält er für Unsinn und nimmt sie nicht
in den Mund. Erstaunlich sind seine Vorurteile.
Nietzsche zum Beispiel verzeiht er jede
noch so törichte Wendung, Hegel dagegen
kann er nicht leiden. Von seinem Projekt
spricht er aus Schüchternheit nie. Bitte,
sagte er kürzlich nach einem langen Blick
auf die Erde, bitte halten Sie sich bereit.


Pfarrer Stefan Mai

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