„Sie können sich gar nicht vorstellen, wie entbehrlich Sie sind.“

Predigt zum 5. Sonntag im Jahreskreis (Jes 6,1-8; Lk 5,1-11)

Vor kurzem bin ich auf ein Gedicht von Hans Magnus Enzensberger gestoßen. Es hat mich sehr nachdenklich gemacht und heißt:

Die Visite

Als ich aufsah von meinem leeren Blatt,
stand der Engel im Zimmer.

Ein ganz gemeiner Engel,
vermutlich unterste Charge.

Sie können sich gar nicht vorstellen,
sagte er, wie entbehrlich Sie sind.

Eine einzige unter fünfzehntausend Schattierungen
der Frabe blau, sagte er,

fällt mehr ins Gewicht der Welt
als alles, was Sie tun oder lassen,

gar nicht zu reden vom Feldspat
und von der Großen Magellanschen Wolke.


Sogar der gemeine Froschlöffel, unscheinbar wie er ist,
hinterließe eine Lücke, Sie nicht.

Ich sah es an seinen hellen Augen,
er hoffte auf Widerspruch, auf ein langes Ringen.

Ich rührte mich nicht. Ich wartete,
bis er verschwunden war, schweigend.

Ich kann mich gut hineindenken in den Dichter Hans Magnus Enzensberger. Eigentlich möchte ein Dichter doch die Welt verändern. Mit seinen Worten Menschen zum Nachdenken und zum Handeln bringen. Er sitzt vor seinem leeren Blatt Papier und zermürbt sich das Hirn, um ein paar Zeilen auf das Blatt zu bringen. Und da kommt dieser gemeine Engel und macht ihm seine totale Bedeutungslosigkeit bewusst. Er meint: Gar nichts veränderst du mit deinen Gedanken und Gedichten. Auch wenn du dich noch so abrackerst, du und deine Worte sind bedeutungslos. Auf sie kommt es in unserer Welt nicht an. Wenn du einmal weg bist, hinterlässt du keine Lücke.

In den heutigen Lesungen begegnen uns auch zwei Menschen, denen wird ihre Bedeutungslosigkeit und Kleinheit bewusst.
„Weh mir, ich bin ein Mann mit unreinen Lippen“ bekennt Jesaja in der Berufungsvision angesichts der Größe Gottes, die ihm bewusst geworden ist.
Und Petrus kann nur noch erschrocken stammeln: „Geh weg von mir, ich bin ein Sünder“, als er es auf den Rat Jesu hin wider alle Erfahrung und wider alle Erwartung mit vollen Booten ans Land kommt.

Diese zwei Männer erkennen ihre Unvollkommenheit und Bedeutungslosigkeit. Sie spüren, wie klein und schwach sie eigentlich sind. Aber im Gegensatz zum Dichter, der schockiert von den Worten des Engels „Sie können sich gar nicht vorstellen, wie entbehrlich Sie sind“ regungslos und wie erschossen vor seinem leeren Blatt Papier sitzt, spüren die beiden: Ich werde trotzdem gebraucht, auf mich kommt es an. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen.
„Hier bin ich, sende mich!“ - so reagiert Jesaja.
Und Petrus hört nach dem Eingeständnis seiner Kleinheit die Worte: „Fürchte dich nicht, von jetzt an wirst du Menschen fangen.“

Liebe Leser,
jeder Mensch spürt seine begrenzten Möglichkeiten, ja manchmal wird uns schmerzhaft die eigene Kleinheit und Bedeutungslosigkeit bewusst. Das kann lähmen, wie es der Dichter bei der Engelsvisite empfindet.
Wenn ich aber wie Jesaja und Petrus spüren darf: Mir wird trotz meiner Kleinheit etwas zugetraut, dann kann ich mir sagen lassen: „Du hast mehr Möglichkeiten als du glaubst, ganz abgesehen von den ungeahnten Möglichkeiten Gottes mit dir, wenn du dich nur ihnen überlässt.“

Fürbitten

In den Schrifttexten wurden uns heute zwei Menschen vor Augen geführt, die sich ihrer Kleinheit bewusst waren und denen trotzdem ein großer Auftrag anvertraut wurde. Gott, dich bitten wir:

Für alle Menschen, die sich klein und unbedeutend vorkommen und sich deshalb nichts zutrauen und sich in Schneckenhaus zurückziehen

Für alle, die sich maßlos überschätzen und sich gern in den Vordergrund spielen und nicht merken, wie sie dadurch menschliche Atmosphäre vergiften

Für alle, denen eine große Aufgabe und eine große Verantwortung anvertraut ist und die mit großem Ernst versuchen, ihr gerecht zu werden

Für alle, die unter der Last ihrer Aufgaben zusammenzubrechen drohen und die nicht mehr lange die Kraft haben, sie zu erfüllen

Für alle Menschen, denen durch eine plötzliche Krankheit oder einem schweren Schicksalsschlag bewusst geworden ist, wie klein und zerbrechlich wir Menschen sind

Für unsere Toten, für die wir in diesem Gottesdienst beten.....
Für sie erhoffen wir die Erfüllung ihres Lebens bei dir


Pfarrer Stefan Mai

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