In jener Zeit oder heute?

Predigt zum 4. Sonntag im Jahreskreis (Lk 4,21-30)

Einleitung

Er findet kaum Beachtung in der Vielzahl der thematischen Sonntage in unserer Kirche, der ökumenische Bibelsonntag, der immer am letzten Sonntag im Januar gefeiert wird. Das heutige Sonntagsevangelium, in dem uns vom Evangelisten Lukas geschildert wird, wie Jesus mit der heiligen Schrift seines Volkes umgeht, regt auch uns wieder einmal an, uns die Frage zu stellen, wie hältst du es mit den Geschichten und Worten aus diesem alten Buch?

Wort auf dem Weg

Martin Luther schrieb einmal:

„Ich habe nun 28 Jahr, seit ich Doktor geworden bin, stetig in der Bibel gelesen und daraus gepredigt, doch bin ich ihrer nicht mächtig und find noch alle Tage etwas Neues drinnen.“

Predigt

„In jener Zeit“ - wie oft beginnen unsere Sonntagsevangelien mit diesen Worten. So auch heute. Da heißt es: „In jener Zeit begann Jesus in der Synagoge von Nazareth darzulegen...“
Wie klingt dieses „In jener Zeit“ in Ihren Ohren?
Klingt es vertraut? Vielleicht sogar ein Stück erhaben, ein Stück zeitenthoben? Oder hat es in Ihren Ohren den Klang von „es war einmal...“, den Klang einer alten Geschichte aus ferner Zeit, die mit heute wenig zu tun hat?
Doch im heutigen Evangelium steht dieser berühmte Evangelienanfang in einer großen Spannung. Hören wir einmal genau hin!
Da heißt es: „In jener Zeit begann Jesus in der Synagoge von Nazareth darzulegen: Heute hat sich das Schriftwort erfüllt!“
Da kommt Jesus, der seinem Heimatort den Rücken gekehrt hat, wieder mal heim und geht zum Synagogengottesdienst. Er darf Lektorendienst machen und trägt als Gast die Schriftlesung aus dem Profeten Jesaja vor: „Der Geist des Herrn ruht auf mir...Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe, damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht...und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Alles schaut diesen Jesus gespannt an. Und dann diese Worte: „Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt! Von wegen Worte aus „jener Zeit“. Da behauptet Jesus: Diese Worte aus alter Zeit packen mich, die gehen mich an, die sind mir auf den Leib geschrieben. Die werden durch mich mit Leben gefüllt und durch mich verwirklicht. Diese alten Worte werden zu seinem Lebensprogramm.

Liebe Leser, das wissen wir doch selbst. Wenn ich einen Film anschaue oder einen Roman lese, dann wird der Film oder der Roman für mich fesselnd, wenn ich in die Geschichte hineingezogen werde, wenn ich mich in einer der Figuren entdecke und ein Stück Seelenverwandtschaft mit ihnen spüre, wenn ich direkt zu einem Mitspieler werde. Solche Szenen werde ich dann nie vergessen. Ich spüre, die haben mit mir zu tun, die bringen etwas von meinem Leben auf den Punkt.
Reinhold Schneider schrieb einmal in seiner Autobiographie: „Ich schlug an einem Weihnachtsabend die Heilige Schrift auf und floh auf die kalte dunkle Straße. Denn es war ja klar: Unter diesem Anspruch der Wahrheit kehrt sich das Leben um. Dieses Buch kann man nicht lesen. Man kann es nur tun. Es ist kein Buch. Es ist eine Lebensmacht.“

Von wegen die Bibel ein Buch aus „jener Zeit“. Dieses „Heute“ des heutigen Evangeliums lädt ein, es Jesus nachzumachen, sich von den Worten aus jener Zeit heute treffen zu lassen, aus einem Hörer des Evangeliums zum Mitspieler zu werden. Oder wie Reinhold Schneider es meint, die Bibel zu einer Lebensmacht werden zu lassen.

Wer dies schon einmal erlebt hat, dass Worte der Bibel mich treffen, nicht loslassen, mein Verhalten überdenken lassen und mich neu ausrichten, der wird automatisch zum Mitspieler. Der spielt die Worte Jesu in unsere Gesellschaft ein und speist den Geist und die Verhaltensmuster Jesu in den Alltag ein. Wer dies tut, der wird - wie damals Jesus in Nazareth - auch selbst erfahren, dass das nicht immer Zustimmung und Applaus einbringt. Es kann sein, dass er dafür bewitzelt oder in eine Außenseiterrolle gedrängt wird. Von einem bin ich aber auch überzeugt: Wer die Worte und Geschichten von damals heute lebendig werden lässt, der gewinnt - wie damals Jesus in Nazareth - auch heute innere Standfestigkeit, der schreitet auch heute mit einem gewissen Stolz durch die Menge hindurch.


Pfarrer Stefan Mai

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