Weihnachten piekst

Predigt zum 2. Sonntag nach Weihnachten

Die Feiertage sind wieder vorbei. Weihnachten ist wieder rum. Die ersten Weihnachtsbäume sind schon aus den Wohnzimmern geflogen. Die Besuche sind rum. Und selbst das gute Essen haben viele satt. So mancher sagt sich: Gott sei Dank, dass es jetzt wieder normal weitergeht. Die Frage ist: Ist es mit Weihnachten vielleicht wie mit einem Tannenbaum, der abgehackt, ohne Wurzeln für ein paar Tage im Wohnzimmer steht, festlich geputzt und geschmückt wird, künstlich durch Wasser am Leben erhalten wird und dann wieder für ein Jahr weggeschmissen wird, ohne in uns Wurzeln zu treiben und etwas anzustoßen? Eine Geschichte kann uns darüber einmal zum Nachdenken anregen:

Die Weihnachtszeit ging langsam zu Ende, und wie in jedem Jahr trafen sich die Christbäume zu ihrer Vollversammlung. Nachts, wenn die Menschen schliefen, konnten sie in Ruhe auf die Festtage zurückblicken und Bilanz ziehen. »Es wird immer trauriger«, begann ein stämmiger Baum die Aussprache, »die meisten Leute wissen nicht mehr, warum sie uns aufstellen und schmücken. Sie stellen uns zwar auf – aber dass wir den Paradiesbaum, den Baum des Lebens darstellen, wer denkt schon daran?
»Ganz richtig«, ergänzte eine Christbaum-Kugel und kam sofort ins Rollen, »wer ahnt denn heute noch, dass unsere Vorfahren Äpfel waren und dass wir die Früchte am Baum des Lebens repräsentieren? Je kunstvoller und schöner wir werden, desto mehr gerät unsere Bedeutung in Vergessenheit.«
»Was sollen wir erst sagen«, rief ein Lebkuchen-Herz und schüttete sich aus: »Wir sollen auf die Herzlichkeit und Menschenfreundlichkeit Gottes hinweisen, die Jesus uns gezeigt hat – aber wer uns sieht, interessiert sich nur dafür, wie er uns möglichst schnell vernaschen kann.«
Eine Kerze vergoss einige Wachs-Tränen und klagte:»Auch wir wollen, dass die Menschen an Jesus denken, wenn sie uns anzünden. Wer sich an ihm orientiert, dem geht ein Licht auf, der entdeckt, was im Leben wirklich wichtig ist, der findet auch einen Weg durch die dunklen Stunden – aber wem leuchtet das heute noch ein?«
Schließlich meldete sich noch ein kleiner Strohstern zu Wort: »Wer mich in Ruhe betrachtet, könnte sich von mir sagen lassen: Du wirst immer einen rettenden Strohhalm haben, weil Jesus – das Kindlein auf Heu und auf Stroh – die Not und Armut mit dir teilt. Aber für die meisten ist Weihnachten nur ein Strohfeuer, das schnell verlischt.«
So klagten die Christbäume noch eine ganze Weile, bis endlich einer kleinen Tannennadel eine Idee kam: »Es nützt doch nichts, wenn wir traurig und schmollend in der Ecke stehen und die Zweige hängen lassen. Wir Nadeln könnten doch die Leute, die uns zum nächsten Weihnachtsfest schmücken, ganz vorsichtig sticheln und anstacheln. Vielleicht spüren sie dann, dass wir eine Botschaft haben, die unter die Haut gehen will. Vielleicht werden sie dankbarer für das Leben, das Jesus ihnen neu schenkt. Vielleicht lassen sie sich anstecken zur Herzlichkeit, vielleicht sehen sie manches in einem anderen Licht, vielleicht entdecken sie neu, wie wichtig der rettende Strohhalm des Glaubens für sie ist …«


Die meisten von Ihnen räumen wohl in der kommenden Woche den Christbaum wieder auf. Sollten Sie dabei von einer kleinen Tannennadel gestochen werden: Nicht ärgern, sich ruhig einmal pieksen und sich fragen lassen: Was ist vom Weihnachtsfest wirklich übrig geblieben?

Die Geschichte „Die Klage der Christbäume“ erzählt nach W. Raible, 100 Kurzansprachen, Freiburg i. Br. 2009, 37f.


Pfarrer Stefan Mai

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